Der Stubaier Gletscher zieht seit jeher Freerider an. Das gesicherte Gelände zu verlassen kommt aber in jedem Fall einer riskanten Gratwanderung gleich.

Foto: Patrick Ribis

Die im Text erwähnten Sicherheitsprofis bieten Freeridern laufend Kurse, Camps und geführte Touren an; Infos beim Freeride Center Stubai, beim SAAC und beim Alpenverein. Wer am Berg in Not gerät, wählt 140, die Nummer der Bergrettung. Da jedoch viele Probleme damit haben, ihre genaue Position anzugeben, hat die Bergrettung Tirol eine App gebastelt, die beim Notruf gleich die GPS-Koordinaten mitschickt. Achtung: Auch die App funktioniert nur dort, wo es Handyempfang gibt – und das ist im freien Gelände nicht garantiert.

Foto: Thomas Rottenberg

Im freien Gelände ist man nicht ohne Notfallausrüstung unterwegs: Lawinenverschütteten-Suchgerät (LVS), Schaufel und Sonde sind das Minimalprogramm, Airbag, Biwaksack, Erste-Hilfe-Set, Stirnlampe und Trillerpfeife werden empfohlen. Das LVS sendet ein Signal, kann aber auch andere LVS von Trägern in Not orten. Nach 15 Minuten sinken die Überlebenschancen unter einer Lawine rapide - de facto kommen daher oft nur die Kollegen vor Ort als Lebensretter infrage. Aus diesem Grund werden rein passive Systeme, bei denen das Ortungsgerät erst an den Unfallort gebracht werden muss, von professionellen Rettern mit Skepsis betrachtet.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Erwähnung wert ist im Stubaital auch ein sportliches Alternativprogramm zum Skifahren: Hier findet man Österreichs längste Naturrodelbahn. Vom Elfer führen zwei jeweils acht Kilometer lange und gut präparierte Rodelbahnen hinunter nach Neustift im Stubaital. Die österreichische Rodelhomepage rodeln.at wertet die Bahnen als "mittelschwer", mehrmals pro Woche wird auch Nachtrodeln bei Flutlicht angeboten. Der Aufstieg dauert zu Fuß rund zwei Stunden, mit der Gondelbahn sind es lediglich fünf Minuten. Rodeln sind gegen eine Kaution an der Talstation entlehnbar. Weitere Infos: www.elfer.at

Foto: Thomas Rottenberg

Patrick Ribis dreht sich um, gibt ein "Daumen hoch", macht einen, vielleicht zwei Schritte nach vorne – und ist verschwunden. Weg. Vom Erdboden verschluckt. Bloß ist der Erdboden hier Schnee: glatt und gleichmäßig, ohne jede Erhebung. Und trotzdem ist der Bergführer jetzt nicht mehr da – keine zehn Meter neben der Piste, hoch oben auf dem Stubaier Gletscher.

Dort, wo Ribis gerade noch stand, klafft ein Loch. Das führt senkrecht nach unten, etwa drei Meter. Von unten kommt ein Lachen. Dann taucht ein Helm auf: "Alles sicher da unten." Dann wiederholt der Bergführer, was er Sekunden vor seinem Verschwinden gesagt hat: "Ich möchte nie – wirklich niemals – in eine unbekannte Spalte fallen!"

Die Spalte, in die der Gründer des Freeride Centers Stubai da mit voller Absicht gerutscht ist, hat der 32-Jährige im Herbst entdeckt. "Eigentlich ist das ein Gletschertor", korrigiert er sich, während er unter der Schneedecke eine Höhle aus zehntausende Jahre altem Eis inspiziert, in enge Gänge kriecht und über die Veränderung von Schneekristallen bei kleinsten Temperaturschwankungen spricht. "Letzte Woche konnte man dort noch rauskriechen", sagt er. Nächstes Jahr wird die namenlose Spalte wohl verschwunden sein: Der Gletscher schrumpft.

Doch im Augenblick geht es um etwas anderes. Was so spielerisch aussieht, wäre unter nichtkontrollierten Bedingungen lebensgefährlich: der Sturz, das Herumkrabbeln unter dem Gletscher, der Rückweg an die Oberfläche. Ohne Seil mit Skischuhen einen engen Eiskamin hinaufzuklettern kann zwar ein großer Spaß sein. Aber wie sich das im Ernstfall anfühlt, steht auf einem anderen Blatt. Die erste Zeile auf diesem Blatt lautet: "Einen Meter neben der Piste herrschen andere Gesetze", wie Ribis immer wieder betont. Der Bergführer lebt davon, diese Gesetze zu befolgen. Oder besser: zu zeigen, wie schön die Welt sein kann, in der sie gelten – solange man die Spielregeln beachtet. Und wie gnadenlos der Berg jenen gegenübertritt, die diese Regeln nicht befolgen. Egal, ob aus Ignoranz, Unachtsamkeit, Unwissenheit oder anderen Gründen.

Die Verlockung nebenan

Seit drei Jahren führt Ribis Skifahrer und Snowboarder ins Backcountry, also in jenes Weiß, in dem der Schnee nicht von Pistenraupen totplaniert ist; in jenes Weiß, das die moderne Lawinenkunde immerhin in 200 verschiedene Arten einteilt. Alle sind unterschiedlich beschaffen – doch den durchschnittlichen Wintertouristen, weiß Michael Larcher, der Leiter des Bergsportreferats des Österreichischen Alpenvereins, kümmert das nicht: "Auf der Piste liegt Schnee – daneben auch. Der einzige Unterschied ist offensichtlich: Das daneben sieht verlockender aus."

Das hat die Tourismusbranche freilich längst erkannt, sie wirbt mit dem wildem Weiß. Versuche, Wintergästen den Weg ins freie Gelände dann wieder auszureden oder zu verbieten, schlagen natürlich fehl. Dazu müsste man an den Pistenrändern schon massive, meterhohe Drahtzäune errichten.

Patrick Ribis hält nichts von Verboten. Er setzt vielmehr auf das Vermitteln von Kompetenzen. Mit 16 wurde er Skilehrer, dann Bergführer und Bergretter. Heute ist er Ausbildungsleiter der Stubaier Bergrettung, hat seine Freeride-Firma und ist einer der Köpfe des Stubaier Powder Departement.

Ähnlich den Panorama-Pistentafeln in vielen Skiressorts gibt es auf dem Stubaier Gletscher nun auch Freeride-Infotafeln und zusätzliches Kartenmaterial. Überdies kann man die GPS-Daten populärer Routen aufs Smartphone laden; oder Videos, auf denen die Routen genau beschrieben und abgefahren werden – inklusive Erläuterungen von Schlüssel- und Gefahrenstellen, topografischen Besonderheiten und Orientierungspunkten. Wer hier Fragen zu den Routen und zu den aktuellen Sicherheitsrisiken stellt, wird zudem ausführlich darüber informiert – selbst wenn er keinen Guide bucht. "Die meisten Gäste merken, dass sie gut beraten werden, und kommen wieder. Wir investieren in Vertrauen", erklärt Ribis, nachdem ihn zwei Variantenfahrer zehn Minuten lang über Hänge, Schnee und regionale Details ausgefragt haben.

Dass sich das rentiert, glaubt nicht nur der Guide. Mit dem Powder Department wolle man sich auch einen guten Ruf als Freeride-Destination aufbauen, ergänzt Reinhard Klier, Chef der Bergbahnen am Stubaier Gletscher. Gleichzeitig gehe es natürlich darum, das Variantenfahren im gesamten Gebiet zu steuern und durch Bewusstseinsbildung ein wenig sicherer zu machen.

Die Bergbahnen fokussieren demnach auf Sensibilisierung, sie schaffen aber auch Infrastruktur wie den Checkpoint für Lawinensuchgeräte (vulgo Pieps). Hier kann einerseits deren Funktionstauglichkeit überprüft werden, andererseits lernt man bereits im Trockentraining, mit ihnen umzugehen. Das erwähnte Freeride-Kartenmaterial enthält zudem nicht nur Routeninfos, sondern es weist auch ausdrücklich auf die Gefahren im freien Skiraum hin. "Wir wollen ein Bewusstsein für das richtige Verhalten und die entsprechende Ausrüstung schaffen", betont Klier.

Das Stubaital hat damit schon früher gute Erfahrungen gemacht. Nicht zuletzt die Nähe zu Innsbruck macht es seit Jahren zum Einzugsgebiet für viele, die den Weg ins Gelände suchen. Demnach wurden hier sowohl das für Jugendliche konzipierte Ausbildungsprogramm des Alpenvereins – "Risk 'n' Fun" – als auch das aus der Snowboardszene stammende Lawinensicherheits-Programm SAAC (Snow and Avalanche Awareness Camps) begonnen. Die zweitägigen SAAC-Seminare auf dem Gletscher sind kostenlos, und an der sogenannten Pieps-Station gibt es wöchentliche Trainings: Hier gilt es in einem Feld, in dem Dummies mit Pieps versteckt sind, effiziente Methoden der Ortung zu erlernen.

Bergführer Ribis relativiert diese Bemühungen dennoch und formuliert ein wenig technisch: "Ein Lawinenabgang mit Personenbeteiligung ist immer ein potenziell tödliches Ereignis." Und obwohl Ribis nicht einen Schritt ohne seine Notfallausrüstung – Pieps, Schaufel und Sonde – neben die Piste setzt, weist er auf ein Dilemma hin: "Viele glauben, mit der richtigen Ausrüstung könne ihnen erst gar nichts passieren. Dass man drei Tonnen Schnee bewegen muss, um einen Menschen in der durchschnittlichen Verschüttungstiefe von einem Meter auszugraben, blendet fast jeder aus."

Sicherheitspolster

Der Glaube ans richtige Equipment beruhigt: Alleine in dieser Saison wurden 30.000 Lawinenairbags (Rucksäcke, deren aufblasbare Pölster Skifahrer vor dem Verschüttetwerden bewahren sollen) verkauft. Doch just jene, die diese Ausrüstung herstellen, warnen gleichzeitig: "Fakt ist, dass viele das kaufen, aber nicht einmal die Bedienungsanleitung lesen", klagt etwa Matthias Eder vom Bergsportausstatter Mammut. Peter Aschacher, Chef des Ski-Airbag-Pioniers ABS, ergänzt: "Primäres Ziel muss es sein, den Lawinenabgang zu verhindern."

Prävention, meint auch Ribis, sei das Um und Auf in seinem Beruf: Schauen, die aktuelle Situation richtig beurteilen und lieber einmal zu oft Nein sagen. Dennoch geht er davon aus: Wer die Gegend und die aktuelle Situation gut kennt, findet sich besser zurecht und passt sich den Bedingungen an. "Theoretisch kann man auch bei Lawinenwarnstufe vier (große Gefahr; Anm.) sicher unterwegs sein – und bei Stufe eins (geringe Gefahr; Anm.) eine Lawine auslösen." Genau deshalb, sagt Ribis, vertraue selbst er auf lokale Guides: "Ich war vor kurzem mit Kollegen in Chamonix. Wir haben einen 'Local' gebucht und es keine Sekunde bereut. Der kannte die Hänge - wir mussten kein einziges Mal umdrehen."

Tagessätze à 270 Euro, wie sie im Stubaital verlangen werden, können natürlich wehtun. Noch dazu, wenn sich Guides wie Ribis das Können und Wissen der Kunden am ersten Tag sehr genau ansehen und erst danach ins Gelände gehen. Das sei aber keine Geschäfts-, sondern Überlebensstrategie: "So aufregend es da draußen ist – auch ich will wieder nach Hause kommen", sagt Ribis. ( Thomas Rottenberg, DER STANDARD, Album, 25.1.2013)