"Obdachlos! Hungrig! Frierend in den leichten Kleidern - man sollte glauben, daß solches Elend keine Steigerung mehr vertrüge", schrieb Reporter Max Winter 1898 über das Leben auf der Straße.

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Wien - Zusammengekauert sitzen sie auf der Bank in einer U-Bahn-Station in Wien-Landstraße. Seine klapperdürren Beine stecken in einer Jogginghose, über das knochige Knie reicht gerade einmal der Zipfel einer dünnen Decke, die er sich mit seiner Frau teilt. Sprechen kann er kaum noch. Wenn der Bahnhof um Mitternacht zugesperrt wird, müssen sie raus. So lange spazieren, bis sie wieder reindürfen. Das wird nicht vor fünf Uhr morgens sein.

Die beiden, etwa 75 Jahre alt, sind für diesen Abend der vorerst letzte Stopp der Caritas-Streetworker. Wegen der Kälte rücken die Teams derzeit sechsmal pro Woche aus, um Obdachlose zu überreden, in ein Notquartier mitzukommen. Einige hundert Menschen sind es, die es trotz gefährlicher Minusgrade vorziehen, auf der Straße zu bleiben.

Die Gründe dafür reichen vom Unbehagen, in einer der Schlafstellen mit Gewalt, Drogen- oder Alkoholmissbrauch konfrontiert zu werden, bis hin zu psychischen Erkrankungen. Oder einfach dem Bedürfnis, ein letztes Stück Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten; solange es eben geht.

Sie will nicht in ein Lager

Der Greis brummt und gurgelt, er würde wohl gerne mitgehen in ein Quartier. So richtig verstehen kann ihn nur seine Frau. "Zu viele Leute, man steigt sich auf die Füße, kann nicht raus", wiegelt sie ab. "Bitte", sagt sein Blick. "Bitte", sagt auch der junge Sozialarbeiter, der einen kurzen Moment der Schwäche bei ihr wittert. Ohne sie geht er nicht mit, das ist klar.

Sie zögert, erzählt von ihrer Kindheit im Waisenhaus. Nein, sie will nicht in ein Lager. Dass es noch kälter wird, will sie nicht glauben. Die Chance, dass sie mitkommen, ist verflogen. Den angebotenen Schlafsack lehnt er ab. Die Füße, die müssen frei sein, für den Fall, dass er flüchten muss. Leben auf der Straße bedeutet vor allem eines: Stress.

Stress, ein Quartier zu finden, nicht vertrieben zu werden, die Formalitäten zu durchblicken, einen Nächtigungsschein zu organisieren, die Einlasszeit einzuhalten, einen sicheren Platz zu finden, oftmals Matte an Matte. Manch einer resigniert.

Die Tinte ist gefroren

Im Stadtpark legen sich die ersten schlafen. Wer Glück hat, kann sich in drei Schlafsäcke wickeln, darüber schützt eine Plastikplane. Es ist so kalt, dass der Kugelschreiber nur mehr farblose Striche hervorbringt. In ein Notquartier will dennoch keiner von ihnen mitkommen. Angst, nicht mehr aufzuwachen, habe niemand. Auch nicht die einzige Frau, die sich von der Gruppe Männer absentiert hat. Sicher ist sicher.

Sie ist in mehrere Lagen Decken gehüllt, auf einem Campingkocher in ihrer Tasche kocht sie Hustenzuckerl mit Milch auf. "Die beste Medizin", krächzt sie. An den von der Kälte geschwollenen Füßen trägt sie lediglich ein paar Riemchenballerinas mit Socken. In andere Schuhe, die ihr die Caritas-Leute anbieten wollen, käme sie nicht rein, sagt sie. Ihre Hände sind überraschend warm.

Eine Zwangseinweisung sei immer der letzte Ausweg und werde nur von einem Amtsarzt entschieden, sagt die Sozialarbeiterin. Es grenzt an Sisyphusarbeit, immer und immer wieder mit einem Dach über dem Kopf zu locken, mit einer warmen Mahlzeit, mit der Aussicht auf Verbesserung. "Helfen Sie uns, ihnen zu helfen", bittet die Streetworkerin.

Am Praterstern steht schon eine kleine Gruppe Männer. Einer nach dem anderen zeigt seine Blessuren, einer setzt sich benebelt und geduldig auf den Steinboden, zieht das Hosenbein hoch. Das Bein ist die Wade hoch bereits mit Frostbeulen übersät, ein anderer wird von dem Umstehenden gedrängt, den Helfern seine offene Wunde an der Hand hinzustrecken. Einer nach dem anderen wird versorgt, die Wunden desinfiziert, neu verbunden. Immer wieder werden sie eingeladen, am nächsten Tag vorbeizuschauen, in der Gruft oder einer der anderen Anlaufstellen.

Klaus, ein 42-jähriger Deutscher, steht apathisch abseits der Szene. Er zittert, seine Stoffschuhe sind nass und angefroren. Er nimmt das Angebot an und kommt mit. Im U63-Quartier für Männer erhält er ein paar gebrauchte Stiefel. Er kann es kaum fassen. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 26./27.1.2013)