Thomas aus Berlin hat einen "austronostalgischen Germknödel im Selbstversuch" geschickt - und der spricht für sich:
Von Wien nach Berlin zu gehen - das ist kein großer Schritt. Besonders nicht, wenn man es 2010 tut, wenn die Reaktion schon nicht mehr "Oh mein Gott, wie cool", sondern eher "Berlin ist aber schon so vorbei!" ist. Trotzdem sagte eine Freundin, die in Süddeutschland lebt, kurz vor meinem Umzug: "Unterschätze es nicht, es ist ein anderes Land." "Anderes Land, anderes Land, was soll das heißen!", dachte ich und zog, ob vorbei oder nicht, ziemlich fröhlich nach Berlin.
Durch Auslandssemester und Reisen hielt ich mich für abgehärtet gegenüber Kulturschock-Erfahrungen aller Art. Besonders in einem Land, das Österreich so lächerlich ähnlich ist wie Deutschland. Erkenntnis Nummer eins, kurz nach Ankunft: Berliner können keinen Schnee räumen. Im kalten Winter von 2010 eine bittere Erfahrung. Kopfschüttelnd schaute ich den Café-Betreibern in meiner Straße zu, wie sie mit Kinderplastikschaufeln die Schneeberge zu beseitigen versuchten - dann kämpfte ich mich weiter zur S-Bahn, die sowieso nicht fuhr. Nie wieder werde ich über Wiener Schneechaos schimpfen, dachte ich.
"Ach, dann kommen Sie wohl aus dem Süden!", das war in den ersten Wochen an meiner neuen Uni ein oft an mich gerichteter Satz, vor allem von Dozenten und Dozentinnen. "Nein, aus Österreich", sagte ich dann und verstand immer erst in dem Moment, in dem ich es aussprach, dass sie genau das meinten. Aber als "aus dem Süden kommend" hatte ich mich, im nicht besonders südlichen Oberösterreich geboren, noch nie definiert.
Nach meiner ersten Stunde Sprechtraining, das zu meinem neuen Studium gehörte, bat die Trainerin meine philippinische Kollegin, meine ungarische Kollegin und mich zu sich, um sich mit uns über unsere Akzente zu unterhalten. Die Sprechtrainerin, eine überaus kompetente und sympathische Frau, sah uns drei besorgt an und meinte: "Sie werden Extratraining brauchen, Akzente sind im Moment leider überhaupt nicht gefragt."
"Äh, das ist meine Muttersprache, das wissen Sie aber schon?", wollte ich fragen, aber dann kam es mir arrogant gegenüber meinen Kolleginnen vor, die, nebenbei gesagt, natürlich ausgezeichnet Deutsch sprachen und ein mehrstufiges Aufnahmeverfahren an dieser deutschsprachigen Uni bestanden hatten.
Ein paar Tage später wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich für ein Stipendienprogramm für Menschen mit Migrationshintergrund bewerben könne. Erst dachte ich, es handle sich um einen Irrtum, weil ich schwarze Haare habe. Aber es war ein ernst gemeinter, freundlicher Rat von einem deutschen Kollegen, der in meinen Augen im Gegensatz zu mir "tatsächlichen Migrationshintergrund" hatte. "Du kommst doch aus Österreich", sagte er. Er hatte ja recht. Beworben habe ich mich dann allerdings um das Stipendium der gleichen Stiftung, das für alle Studierende offen war.
Wie seltsam das Wort "Migrationshintergrund" wirklich ist, ist mir dann aber erst ein Jahr später aufgefallen. Thilo Sarrazin hatte "Deutschland schafft sich ab" geschrieben, und ich interviewte den Schriftsteller Deniz Utlu, der am "Manifest der Vielen", einem Buch mit Texten gegen Sarrazins Thesen, mitgeschrieben hatte. Da saßen wir in seinem WG-Zimmer und unterhielten uns über Migrationshintergründe. Laut Medien hatte ich keinen, obwohl ich erst vor einem Jahr in dieses Land gezogen war. Und viele Menschen behaupteten, er habe einen, obwohl er hier geboren und aufgewachsen war und als Hannoveraner natürlich viel besser "Hochdeutsch" sprach als ich. "Ich habe keinen Migrationshintergrund", sagte er dementsprechend auch. Das habe ich mir gemerkt.
Österreichische Politik verfolge ich von hier aus so angestrengt und emotional wie immer. Die meisten Entwicklungen bekomme ich aber peinlicherweise nicht aus den Tageszeitungen mit, sondern weil sich meine in Österreich lebenden FreundInnen auf meinem Facebook-Newsfeed zu immer neuen Protestgruppen formieren. Irgendwie finde ich es aber angenehm, in letzter Zeit weniger auf Nazis und schreckliche Missbrauchsfälle und dafür mehr auf Korruption angesprochen zu werden.
Mentalitätsmäßig - auch so ein schwieriges Wort - habe ich mich schnell meiner ungarischen Studienkollegin näher gefühlt als "den Deutschen". Irgendwie ja auch logisch, Wien und Budapest sind sich näher als Wien und Hamburg. Aber vielleicht ist das nur die traditionelle österreichische Deutschenfeindlichkeit, die dann doch auch ein bisschen in mir steckt. Lieber möchte ich mich mit einer genussfreudigen, kulturbeflissenen Ungarin identifizieren als mit straighten Norddeutschen.
Aber mittlerweile habe ich eine brandenburgische Schwiegermutter, bin beim Fußball sowieso immer für Mesut Özil, und auf meinem Uni-Abschlusszeugnis stand sogar "Geburtsort: Linz, Deutschland". Dagegen habe ich dann doch protestiert.
Ein paar Sachen werde ich trotzdem niemals tun, egal wie lange ich hier noch lebe. Kaffee auf der ersten statt auf der letzten Silbe betonen zum Beispiel. Vermissen tue ich, abgesehen von Familie, FreundInnen und der Donau, vor allem kulinarische Dinge. Und da nicht einmal die gehobenen: die leichte Muh-Frühstücksmilch, alle Bio-Produkte von Hofer (Aldi Nord kann wirklich nichts), österreichischen Rotwein, Mühlviertler Kräutertee. Vielleicht auch nur, weil es eben doch meine Heimat ist, ein Begriff, den ich nur sehr vorsichtig in den Mund nehme. Und am meiste vermisse ich, "Es geht sich nicht aus" zu sagen. Berliner verstehen das nicht und müssen stattdessen zugeben: "Das schaffe ich nicht mehr." Die Ärmsten.