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Mutter Heimat ruft zum Kampf gegen die faschistischen Besatzer auf. Das Monument erinnert seit 1967 an die Schlacht von Stalingrad.

Foto: REUTERS/Ilya Naymushin

Hoch ragt das Schwert in den Himmel empor. Der Kopf ist nach hinten verdreht, der Mund geöffnet und zum Schrei verzerrt. "Rodina Matj sowjot" – "Mutter Heimat ruft" heißt die 8000 Tonnen schwere Frauenstatue, die seit nunmehr 46 Jahren an die Gefallenen der Schlacht von Stalingrad erinnert. Unten stapfen ein paar Soldaten mit verdrossener Miene im Schnee. Im Vergleich zum 87 Meter hohen Denkmal auf dem Mamajew-Hügel wirken sie klein und zerbrechlich, fast wie Spielzeugfiguren.

Schlagartig verdeutlicht die Szene die Fragilität und Endlichkeit des menschlichen Lebens. Vor 70 Jahren wurden sie hier zu Zehntausenden von ihren Feldherren geopfert – so unbekümmert, wie kleine Kinder über ihre Zinnsoldaten verfügen. Mehr als eine Million Soldaten und Zivilisten verloren ihr Leben; zerfetzt, zermalmt, zerschossen auf einem Schlachtfeld, das den Namen eines Diktators trug und später den Zusatz Heldenstadt verliehen bekam.

Dass das Monument für die Toten auf dem Mamajew-Hügel steht, ist kein Zufall. In Stalingrad wurde um jedes Haus und um jeden Meter gerungen. Doch auf der strategisch wichtigen Anhöhe, die nach einem mongolisch-tatarischen Heerführer aus dem 14. Jahrhundert benannt ist, fanden die blutigsten Schlachten statt. "Sogar wenn es schneite, blieb der Mamajew-Hügel schwarz. Es taute hier schnell und der Schnee vermischte sich mit der Erde vom Artilleriefeuer", erinnerte sich später Marschall Wassili Tschuikow, der in Stalingrad die 62. Armee befehligte.

Inzwischen ist aus dem einstigen Stalingrad Wolgograd geworden, und trotz seiner Größe – über 70 Kilometer zieht sich die Millionenmetropole am westlichen Wolga-Ufer entlang – ist Wolgograd eine beschauliche Stadt geblieben. Im Frühsommer, wenn Blumen und Bäume in den zahlreichen Parks blühen und die Wolga gemächlich murmelnd ihren weiten Weg zum Kaspischen Meer nimmt, ist sie sogar ansehnlich.

An den früheren Schlachtort erinnert wenig, die Ruinen sind gesprengt und durch neue graue Häuserblocks sowjetischen Typs ersetzt. In der Innenstadt wird das Grau durch grelle Leuchtreklame der Geschäfte aufgelockert. Auch internationale Modemarken und Organisationen haben sich in der Stadt niedergelassen: Cartier und Yves Rocher, Adidas und Caritas.

Und doch kommen die Touristen nicht wegen Adidas, nicht wegen der Parks oder der Melonen und Weintrauben, die hier wachsen, und nicht einmal wegen Mütterchen Wolga. Sie kommen, um die Toten zu ehren. Es ist die Vergangenheit, die der Stadt ihre Bedeutung verleiht. Für die Russen bleibt Wolgograd in erster Linie der Ort, an dem die Wende des Zweiten Weltkriegs – in Russland Großer Vaterländischer Krieg genannt – gelang; an dem der Vormarsch der Wehrmacht endgültig gestoppt wurde. Die Losung " Es gibt kein Land für uns hinter der Wolga", die vom legendären Stalingrader Scharfschützen Wassili Saizew stammt, können heute noch viele Russen zitieren.

Elementarer Bestandteil

Der Stolz auf den Heldenmut der Verteidiger Stalingrads ist elementarer Bestandteil des russischen Selbstverständnisses. Natürlich versucht der Kreml von diesem Patriotismus zu profitieren. Das war zu Sowjetzeiten so und hat sich nicht geändert. Ließ sich einst Josef Stalin als genialer Generalissimus für den Sieg feiern, so sonnen sich auch seine Nachfolger gern im Glanz von Militärparaden, Flug- und Panzershows. Wenn Wladimir Putin hinter dem Steuerknüppel eines Kampfbombers oder in Uniform an Bord eines Raketenkreuzers zu sehen ist, sollen die Fotos sein Image als Oberbefehlshaber und starker Mann an der Spitze des Staates festigen.

Eine mächtige Armee mit ruhmreicher Vergangenheit ist der Rahmen für das Bild. Da der derzeitige Zustand der russischen Streitkräfte alles andere als rosig ist – Rekrutenschinderei und zu- letzt ein Milliarden Rubel schwerer Korruptionsskandal im Verteidigungsministerium beherrschen die Schlagzeilen -, muss die Erinnerung an die Vergangenheit dies kompensieren.

Und so wurde in den letzten Jahren ein riesiger Schwall an Kriegsfilmen vom staatlichen Fernsehen gedreht, während die Militärparaden von Jahr zu Jahr mit immer größerem Aufwand betrieben werden. Auch zum 70. Jahrestag der Zerschlagung von Hitlers 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 darf die obligatorische Siegesparade natürlich nicht fehlen.

Angeführt wird das Spektakel vom legendären sowjetischen Panzer T-34. Doch nicht nur Militärtechnik aus der Weltkriegszeit rollt durch das Stadtzentrum von Wolgograd. Dutzende moderner Waffensysteme von Panzertechnik, Artillerie und Raketenwerfer werden präsentiert. Zudem sollen laut Plan hunderte Elitesoldaten und Kadetten verschiedener Militärinstitute aufmarschieren.

Seit einem halben Jahr wurden die Feierlichkeiten bis ins Detail geplant. Präsident Putin, der wie vor zehn Jahren wieder persönlich in Wolgograd erwartet wird, hat bereits im September das Dekret zum Ablauf der Feierlichkeiten verabschiedet. Rund 8000 Glückwunschkarten an die Teilnehmer der Schlacht hat der Kreml verschickt.

Die Veteranen sollen bei der Veranstaltung die wichtigste Rolle spielen. Aus allen Regionen des Landes werden sie nach Wolgograd geschickt. "Die Schlacht um Stalingrad ist eines der hellsten Kapitel in der Geschichte unseres Vaterlands. Wir werden immer stolz sein auf die Menschen, die den Sieg für uns errungen haben", sagte Putin.

Dieser Stolz äußert sich freilich oft nur an solchen Gedenktagen. Ansonsten ist die finanzielle Unterstützung dürftig. Selbst 70 Jahre nach der Schlacht haben noch nicht alle Teilnehmer eine Wohnung zugewiesen bekommen – obwohl das staatliche Programm seit langem läuft.

Kurzzeitig umbenannt

Dafür hat das Stadtparlament auf Antrag eines Veteranenverbands Wolgograd zumindest kurzzeitig wieder in Stalingrad umbenannt. Die Regelung gilt neben dem 2. Februar auch am 9. Mai (Tag des Sieges) und an vier weiteren Gedenktagen im Jahr. An der Kremlmauer heißt Wolgograd übrigens schon seit 2004 wieder Stalingrad. Die Inschrift auf dem Gedenkstein wurde auf Anweisung Putins geändert. Die Schlacht habe in Stalingrad und nicht in Wolgograd stattgefunden, begründete der Kremlchef den Schritt damals.

Die Initiative, der Stadt dauerhaft wieder den Namen zu verleihen, den sie zwischen 1925 und 1961 trug (davor hieß sie Zarizyn), stößt in Russland allerdings auf Widerstand. Zwar haben die Kommunisten kurz vor den Jubiläumsfeiern rund 50.000 Unterschriften für die Rückbenennung gesammelt, doch die Initiative unterstützen laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums nur 18 Prozent der Bevölkerung.

Die Debatte um die Rolle Stalins in der russischen Geschichte dürfte durch eine weitere umstrittene Aktion weiter angeheizt werden: So sollen in Wolgograd, St. Petersburg und dem sibirischen Tschita Busse mit dem Konterfei des Sowjetdiktators kursieren. Die Bemalung der "Stalinbusse" werde durch private Spenden und mithilfe mehrerer Organisationen, vor allem der Kommunistischen Partei, finanziert, erklärte der Leiter der Aktion, Alexej Rerich.

Der Chef der sozialliberalen Partei Jabloko, Sergej Mitrochin, kündigte bereits an, seine Partei werde nicht zulassen, dass Stalinbusse durch russische Städte fahren, und entsprechende Bilder mit Farbe überstreichen. Auch Bürgerrechtler und Historiker protestierten gegen diese geplante Heldenverehrung. Sie machen Stalin für die Repressionen des Großen Terrors 1937/38, aber auch für viele Kriegstote verantwortlich, die aufgrund seiner Fehlentscheidungen ums Leben kamen. Dass ausgerechnet er der Held von Stalingrad sein soll, halten sie für geradezu pervers. (André Ballin, DER STANDARD, 02./3.02.2013)

=> Der Anfang vom Ende Hitlers

Der Anfang vom Ende Hitlers

Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach der Machtergreifung der Nazis (30. Jänner 1933) markiert die Kapitulation der deutschen 6. Armee am 2. Februar 1943 in den Ruinen von Stalingrad den Anfang vom Ende Adolf Hitlers. Generalfeldmarschall Friedrich Paulus hatte sich bereits am 31. Jänner ergeben und damit über Hitlers Durchhaltebefehl hinweggesetzt. Die Stadt mit dem Namen des großen ideologischen Widersachers sollte zum Symbol deutscher Überlegenheit werden. So aber wurde Stalingrad zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, mit hunderttausenden Toten auf beiden Seiten. Von den etwa 91.000 deutschen Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft gerieten, kehrten nur 6000 in die Heimat zurück. (jk)