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Hypertrichose, Porphyrie, Tollwut oder Epilepsie machen Menschen nicht zu Werwölfen.

Ein Biss macht sie zu rasenden Bestien, mit gefletschten Zähnen und Schaum vor dem Mund. Sie heulen, wälzen sich am Boden, scheuen Wasser und Sonnenlicht. Werwölfe oder Menschen, die an Tollwut erkrankt sind?

Wolfs- oder Haarmenschen leiden unter der sogenannten Hypertrichose, auch Werwolf-Syndrom genannt. Im Extremfall ist ihr gesamter Körper von einem dichten Haarkleid bedeckt. Das Erbleiden ist äußerst selten. Seit dem Mittelalter wurden rund 50 Fälle von Menschen mit Hypertrichose dokumentiert. Werwolflegenden lassen sich mit dieser pelzigen Erkrankung allerdings nicht erklären.

"Auch in einer Zeit, in der noch daran geglaubt wurde, dass Menschen tatsächlich in der Lage sind, sich in Wölfe zu verwandeln, war bereits bekannt, dass die Hypertrichose mit Werwölfen nichts zu tun hat", sagt Utz Anhalt, deutscher Mythenexperte, Historiker und Anthropologe. Zwar wurden Wolfsmenschen bis in die frühe Neuzeit als fragwürdige Kuriositäten an Königshöfen und auf Jahrmärkten vorgeführt, für mordende Monster hat diese Menschen aber laut Anhalt niemand gehalten. "Die Hypertrichose wurde auf andere magische Weise erklärt, nicht über den Werwolfmythos", ergänzt der Werwolfexperte.

Spärliche Erkenntnisse

Bis heute sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Hypertrichose jedoch spärlich. Wissenschaftler vermuten, dass die Haarfollikel durch einen genetischen Defekt in der Wachstumsphase verharren. Der Übergang in die Ruhephase, an deren Ende Haare normalerweise ausfallen, scheint zu fehlen. Betroffenen versucht man heute therapeutisch zu helfen, indem die Haarfollikel mit Laser verödet werden. Das Problem: Die Behandlung ist aufwändig, kostenintensiv und kann zudem Narben auf der Haut hinterlassen.

Auch die  Porpyhrie ist Werwolflegenden Pate gestanden. Patienten, die unter dieser seltenen Stoffwechselerkrankung leiden, sind äußerst lichtempfindlich und bevorzugen deshalb die Dunkelheit. Ihre Zähne wirken durch Rückbildung des Zahnfleisches vergrößert, die Gesichtsbehaarung ist vermehrt. Psychische Ausnahmezustände, wie manische Phasen, haben der Vorstellung, dass es sich bei Porphyrie-Patienten um Werwölfe handelt, noch zusätzlich Vorschub geleistet.

Bis heute vermuten viele Medizinhistoriker, dass Werwolfmythen auf diese seltene Erkrankung zurückgehen. "Ich kenne aber keinen einzigen Fall eines Porphyriekranken aus der frühen Neuzeit oder dem Mittelalter, der als Werwolf – dem männlichen Äquivalent zur Hexe - betrachtet wurde und deshalb zum Opfer in einem Hexenprozess wurde. Ebenso wenig waren Menschen, die unter Hypertrichose litten, Teufelsbünder", erzählt der Mythenexperte.

In der christlichen Vorstellung war der Mensch, der sich in einen Werwolf verwandelt, verflucht, hat also einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Ein Gürtel aus Wolfsfell verlieh ihm die Wandlungsfähigkeit. "Die der Verwandlung in einen Wolf beschuldigten Menschen wurden so lange gefoltert, bis sie irgendwann alles gestanden, vom Kannibalismus bis zum Teufelpakt", so Anhalt.

Eindeutiger Bezug

Im Unterschied zur Hypertrichose und der Porphyrie ist der Bezug der Tollwut zu den Werwolflegenden eindeutig. Im Volksglauben wurde als Auslöser für Wolfsverwandlungen der Verzehr eines vom Wolf gerissenen Tieres vermutet. Das kommt einer Übertragung im Sinne einer Infektion nahe, allerdings ging man im Mittelalter nicht von einer viralen sondern einer magischen "Infektion" aus.

Der Schweizer Arzt Joseph Claudius Rougemont war seiner Zeit voraus. Er hat die Tollwut schon 1798 als Krankheit identifiziert. In seiner Doktorarbeit hat Rougemont über die sogenannte Hundswuth geschrieben und Beobachtungen wie Photophobie, spastische Lähmungen der Gesichtsmuskulatur, Abscheu vor Wasser etc. als Krankheitssymptome korrekt interpretiert. Der Beweis, dass es sich bei der Tollwut um eine Infektionskrankheit handelt, wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung der Viren erbracht.

Heute weiß man über die Tollwut mehr, auch, dass die tollwütige Raserei erkrankter Menschen nichts mit Blutrünstigkeit zu tun hat, sondern mit purer Verzweiflung. Die Betroffenen leiden unter starken Schmerzen und würden gerne trinken, können es aber aufgrund einer Schlucklähmung nicht. Ist die Erkrankung einmal ausgebrochen, dann erfolgt innerhalb weniger Tage der Tod. Heilung gibt es keine.

Menschliche Phantasie

Werwolflegenden allein auf die Tollwut zu reduzieren wäre jedoch zu einfach. Anhalt betrachtet den Zusammenhang nur als einen Aspekt unter vielen: "In allen animistischen Kulturen gab es die Vorstellung, dass sich Menschen auf die eine oder andere Art in Tiere verwandeln können. Krankheiten oder psychische Extremzustände wurden erst hinterher in diese Glaubensvorstellungen involviert. Der Werwolfmythos selbst ist ein Produkt der menschlichen Phantasie."

Auch die Epilepsie, eine neurologische Erkrankung, macht Menschen nicht zu Werwölfen, weist aber ebenfalls Verbindung zum Werwolfmythos auf. "Der Wolf war generell mit Werten und Krankheiten assoziiert, die mit Rasereizuständen und Kontrollverlust zu tun hatten", so Anhalt. Und auch in der Behandlung ekstatischer Zustände hatte der Wolf im Mittelalter eine wichtige Funktion. Einem Wolf das Herz bei lebendigem Leib herauszureißen und roh zu verschlingen, galt als Heilmittel schlechthin. Wolfsaugen wurde als Mittel gegen Epilepsie verabreicht. Eine getrocknete Wolfspfote um den Hals getragen hatte präventiven Charakter.

Kernfragen der Philosophie

Die Frage, warum der Mensch so hartnäckig an dem Werwolfmythos festhält, ist für Anhalt leicht beantwortet: "Der Werwolf ist das Wesen, das eine der Kernfragen der Philosophie provoziert. Die Verbindung, die es zwischen Menschen und Tieren gibt, diese Grenze zwischen der Kultur des Menschen und seiner natürlichen Umwelt, wird insbesondere durch den Wolf, aber auch den Hund aufgebrochen. Der Vampir, der als Toter in die Welt der Lebenden steigt, spiegelt ebenfalls eine elementare Frage des Seins wider. Er zeigt das Problem der Sterblichkeit und die entscheidende Frage auf: Was kommt danach?" (Regina Walter, derStandard.at, 19.3.2013)