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Besonders aufmerksame Leasingfirmen bestücken selbst schon ihre Mietautos damit. Hinter dem Steuer, so die Überzeugung, hören viele Kunden Hörbücher besonders gern. Auch hier gilt: Double your time, verdopple deine Zeit. Während der Blick auf die Straße gerichtet ist, gehört das Ohr ganz der Literatur: dem Hörspiel, der aufgenommenen Autorenlesung oder dem kunstvollen Vortrag von Gedichten. Der Rhapsode von längst vergangenen Zeiten kommt heute vom Abspielgerät und erreicht damit eine immer breitere Zuhörerschaft.

Das Hörbuch boomt, und das mittlerweile schon seit Jahren. Rund 200 marktrelevante Verlage bieten Saison für Saison die neuesten Hörwürmer feil, etwa 10.000 Titel sind mittlerweile lieferbar. "Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern bloß mit den Augen; er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt." Friedrich Nietzsches spöttische Diagnose von einst (bei der er wohl den ganzen deutschsprachigen Raum im Sinn hatte), gilt längst nicht mehr. Das herkömmliche Medium der Literatur, das Buch, hat einen - zwar noch kleinen, aber dafür im zweistelligen Bereich wachsenden - Konkurrenten bekommen. Dieser funktioniert nach eigenen Regeln. Auch wenn das Hörbuch aufs Engste mit dem Buch verknüpft ist.

Immer häufiger erscheinen die Spitzentitel der Verlage zeitgleich in Buch- und Hörbuchform. Ist ein Bestseller noch nicht auf CD gebrannt, dann kommt er mit ziemlicher Sicherheit in der Folgesaison auf den Markt. Judith Herrmanns filigrane Geschichten aus Nichts als Gespenster schlachtet der Münchner Hörverlag, der unbestrittene Branchenführer, in diesem Herbst sogar schon zum zweiten Mal aus. Drei von der Autorin gesprochene Erzählungen aus dem Band erschienen in der letzten Saison, zwei Erzählungen unter dem Titel Kaltblau. Aqua Alta erscheinen in der kommenden.

Das Hörbuch, nichts als ein Anhängsel des Buches, ein weiteres Medium, um allenfalls einen größeren Marktbereich abzudecken? Mitnichten. Hörbücher, oder, wie Marketingexperten jugendkompatibler sagen, Audio-Books sind Ausdruck einer Wiederkehr des Mündlichen unter den Paradigmen allgemeiner Zeitknappheit. Sie setzen einer einseitigen visuellen Überflutung das gesprochene Wort entgegen.

Hörbücher entziehen dem Leser die Schrift und kurbeln damit die Fantasie des Hörers an, der zur Erfassung eines gesprochenen Textes nun einmal mehr Zeit braucht als zur Erfassung eines gelesenen. Diese Zeitdifferenz kommt der Imagination zugute. Und das schätzen - erstaunlicherweise - immer mehr jüngere Menschen.

Eine zum diesjährigen Zehn-Jahre-Jubiläum vom Hörverlag initiierte Marktforschung bestätigt, dass Audio-Books auch eine Generationenfrage sind. Der durchschnittliche Hörbuchkonsument ist 15 Jahre jünger als der durchschnittliche Buchleser, sagt Heike Völker-Sieber vom Hörverlag. Viele ältere Konsumenten hätten Kontaktschwierigkeiten mit dem Medium. Das Bild des Oberstudienrats, der zum - von Gert Westphal gelesenen - Hörbuchklassiker greift, ist also dahin. Auch wenn ein nicht unbeträchtlicher Teil des Marktes noch immer aus Lesungen von Klassikern besteht.

Es sind vermehrt jüngere Hörer, die auf Poetry Slams und auf - sagen wir - Autorenlesungen von Benjamin von Stuckrad-Barre stehen, die sich in Buchhandlungen nach den CD-Regalen umsehen. Das hat auch etwas mit der Sozialisation dieser Generation zu tun: Als die heutigen Käufer noch etwas jünger waren und auf der Rückbank der Familienkarossen in den Urlaub fuhren, liefen im Kassettenrekorder die neuesten Folgen der Abenteuer von Benjamin Blümchen, später die Kinderkrimis der Drei Fragezeichen. Solcherlei prägt und ist der Grundstock, auf den die Hörverlage heute bauen.

Das spiegelt sich auch in den Programmen wieder: Dort finden sich immer häufiger Angebote, die auf eine jüngere Hörergeneration zugeschnitten sind: Ob die Hörspielversion von Michel Houellebecqs Skandalroman Plattform (AudioVerlag) oder Benjamin Leberts neuer Roman Der Vogel ist ein Rabe (ab September im Hörverlag) - es sind die massenmedienerprobten Namen, die ziehen. Nicht umsonst verzeichnet die Branche gerade mit Harry Potter und Der Herr der Ringe (von dem noch vor dem Start des Films über 100.000 Hörbuchexemplare verkauft wurden) Rekordumsätze.

Eine paradoxe Angelegenheit, sind Hörbücher im Grunde doch eine durchaus altmodische Sache. Sie revitalisieren einige Größen der Literatur, die schon länger (zumindest im Bereich der Germanistik) nicht mehr hoch im Kurs standen. Es ist - wenn man so will - die Reproduktion des Authentischen, des Autors und der Stimme, die mit Hörbüchern ihre Renaissance erleben. Alles Lalula nennt sich etwa eine Sammlung von Originalaufnahmen von Valentin über Schwitters bis zur Beat-Generation, die der Lido Verlag gerade herausgebracht hat, und die den Autor besonders schön feiert: als Produzent von Lautpoesie und Sprechgedichten, von Literatur also, die untrennbar mit dem Akt des Sprechens verbunden ist.

Literatur wurde über Jahrtausende mündlich überliefert - gerade in Zeiten ihrer unbegrenzten technischen Reproduzierbarkeit scheint man sich wieder darauf zu besinnen. Nicht umsonst sind es gerade auch Märchen, jene Gattung, die die Gebrüder Grimm erstmals in Schrift setzten, die als Hörbücher besonders beliebt sind.

Nicht jeder ist bei der Lektüre eigener Texte allerdings so begabt wie ein Michael Lentz (empfehlenswert die Aufnahme von muttersterben im Hörverlag) oder ein Max Goldt (Suchtqualität: Wenn man einen weißen Anzug anhat und anderes bei Hörbuch Hamburg). Die Kunst des Sprechens, die Kunst der Stimme ist ein seltenes Gut, und nur wirklich außerordentlichen Sprechern will man über Stunden sein Ohr leihen. Der Dichter als Vorleser (hierzulande besonders beliebt: Michael Köhlmeier), er blickt im Übrigen auf eine lange Tradition zurück: Christoph Martin Wieland etwa trug dem Weimarer Herzog so manches Literaturstück vor, Goethe rückte später an seine Stelle.

Auf den Bühnen hat sich der Status der Stimme in den letzten Jahrzehnten bekanntlich erheblich geändert, die Kunst ihrer feinen Modulation wurde zugunsten des allgemeinen Körperausdrucks zurückgedrängt. Manche Labels, etwa die Edition Mnemosyne, greifen denn zu Aufnahmen aus Archiven, um die alte Stimmkultur in die Gegenwart zu transportieren. Nicht wenige der heutigen Sprecher, aber beileibe nicht alle, verhelfen der Stimme dagegen zu ihrer zeitgemäßen Körperlichkeit (oder, wie Rudolf Arnheim, der erste Theoretiker der Hörkunst, gesagt hätte, sie befreien den Körper). Sprecherstars wie Rufus Beck oder Otto Sander sind die wahren Rhapsoden der Jetztzeit, die Nachfolger all der Mütter, deren Kinder das Vorlesealter bereits hinter sich gelassen haben.

Sie tragen mitunter eine schwere Last: Aufnahmen mit Einzelsprechern vertrauen zur Gänze auf die Kraft des gesprochenen Wortes - manchmal sogar für ganze 1235 Minuten. So lange dauert etwa Peter Matic' ungekürzte Lektüre von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Hörverlag). Der Lektüre des ersten Teils wohlgemerkt.

Die mitgeschnittene Lesung und die Lektüre eines Werkes durch einen Sprecher sind natürlich nur die eine Seite der Hörbuch-Medaille. Die Ausdifferenzierung des Marktes bedingt eine immer weitere Ausdifferenzierung der Hörbuchformen: Ob Städteporträts oder Bildungslexika: Immer beliebter ist die "inszenierte Lesung", die sich am Hörspiel orientiert und in vielen Fällen auch eines ist. "Hörspiele können kaum von den Verlagen selbst getragen werden", sagt Christine Härle, Verkaufsleiterin Hörbuch beim Eichborn Verlag. "Die Kosten sind einfach zu hoch. Wir kooperieren deswegen mit Radiosendern." Nach der Erstausstrahlung im Radio wird das Hörspiel auf CD gebrannt. Im glücklichen Falle profitieren (und verdienen) dabei alle Beteiligten.

Doch das ist beileibe nicht selbstverständlich. Trotz des Enthusiasmus in der Branche sollte man sich von den Zuwachszahlen nicht täuschen lassen. Die Zahlen sind in Relation zu sehen: Auf etwa 40 Millionen Euro wurde in Deutschland der Hörbuchumsatz im Jahre 2001 geschätzt. Auf 60 Millionen schätzt ihn das Branchenmagazin Buchreport im heurigen Jahr. Auf 9,4 Milliarden kam man dagegen im Jahre 2001 allein im Printmarkt.

Da tut ein Blick über den Ozean gut: In den USA sind Hörbücher schon seit langem ein prosperierender Zweig. Ganze 21 Prozent der amerikanischen Haushalte, so eine Untersuchung der Audio Publishers Association im Jahre 2001, hören Audio-Books. Der Umsatz: zwei Milliarden Dollar im Jahr.

Während in Österreich anbieterseitig vor allem der ORF mit Literatur CDs hervortritt, der Picus Verlag eine beachtliche Hörbuchedition mit Reportagen und Lesereisen etablierte und sich speziell die Kabarettschiene von Hoanzl und anderen wachsender Beliebtheit erfreut, hat in Deutschland der Markt nach der Goldgräberstimmung in den letzten Jahren auch schon einige Opfer gefordert.

Eine Marktbereinigung wird, muss stattfinden, darüber sind sich alle einig. Erste Opfer (z.B. Droemer-Knaur, der sein Hörbuchsegment wieder einstellte) gibt es bereits. Trotzdem: "Hörbücher werden auch in Zukunft ein Wachstumsmarkt sein", ist man sich im Börsenverein des deutschen Buchhandels sicher, "wir müssen sie nur noch mehr in die Öffentlichkeit tragen."

Einige Hörbuchpreise, die regelmäßig Aufmerksamkeit erregen, gibt es bereits, ebenfalls das vom Tübinger Seminar für allgemeine Rhetorik vergebene "Hörbuch des Monats". Mit diesem Jahr kam nun auch der vom WDR in fünf Kategorien vergebene Deutsche Hörbuch-Preis dazu. Man wolle potenziellen Kunden eine weitere "qualitative Orientierungshilfe" bieten, heißt es aus den Reihen der Jury.

Die tut wahrlich Not. Unter den 700 bis 800 neuen Titeln im Jahr finden sich - wie im Printmarkt eben auch - Spreu und Weizen relativ eng beieinander: schlechte Sprecher, billige Aufnahmen, fehlende Hörspieldramaturgie. Und über allem der Streitpunkt: Sind kürzende Eingriffe bei der Übertragung eines literarischen Werkes in ein Hörbuch erlaubt? Hier klaffen die Meinungen zwischen Puristen und Pragmatikern weit auseinander. Während die einen auf die Lesung des ungekürzten Werks pochen, haben die anderen den Markt im Auge. Und der favorisiert nun einmal Literatur in bekömmlichen (und oftmals ziemlich teuren) Häppchen.

Es geht bei dieser Frage natürlich auch um das Selbstverständnis der Branche, und das ist eben noch im Werden begriffen. Gesteht man einem Hörbuch einen eigenen Kunstwerkstatus zu, oder sieht man es nur in Relation zu seiner Vorlage? Eine Frage, die auch im Falle von Literaturverfilmungen (noch immer) gerne diskutiert wird. Wirklich gelungene Hörbücher, wie etwa Valerie Stiegeles Bearbeitung von Thomas Manns Zauberberg (Hörverlag) oder Petra Meyenburgs Version von Bulgakows Jahrhundertroman Der Meister und Margerita (ebenfalls Hörverlag) antworten mit der Qualität der Aufnahme. Und stützen sich dabei auf einen prominenten Fürsprecher.

"Das Epische ist Hörwerk weit eher als Lesewerk" - das schrieb Thomas Mann im Jahre 1940, als ein Kapitel aus den Buddenbrocks in den USA auf Schallplatte erschien. Eine Meinung, die derzeit immer mehr Anhänger zu finden scheint. (Stephan Hilpold/Album, 12./13.07.2003)