Wien - Am Ende des Films erklingt ein Liebeslied von Björk. I See Who You Are heißt dieser mit inniger Stimme gehauchte Titel, der davon erzählt, einen geliebten Menschen bis ins Innerste zu durchschauen. Ob man das wahre Ich - "behind the skin and the muscles", hinter Haut und Muskeln - tatsächlich zu erkennen vermag oder ob nicht im Gegenteil die Liebe blind macht, darüber nachzudenken lässt einem der Abspann ausreichend Zeit. In jedem Fall passt dieses Lied nur allzu gut zu dem Mann, der bis zuletzt undurchschaubar geblieben ist.
Doppeltes Spiel
Denn obwohl wir gesehen haben, wer Robert Miller ist, und der Film uns oft genug Gelegenheit geboten hat, sein doppeltes Spiel zu verfolgen, ist ihm ein letzter Rest an geheimnisvoller Unnahbarkeit geblieben. Das mag zunächst daran liegen, dass die Welt Millers an sich unnahbar scheint, kalt in ihrer zurückweisenden Oberflächlichkeit und so undurchsichtig wie die Art und Weise, wie Miller zu Reichtum gekommen ist. Wie reich Miller tatsächlich ist, erfährt man im Laufe des Films nebenbei, darstellbar ist das wohl nicht mehr. Sich in Brioni-Anzügen in Limousinen durch New York chauffieren lassen, das machen auch andere.
Miller ist ein Wallstreet-Tycoon, eine für das Kino seit einiger Zeit wieder interessante Figur, weil man meint, im skrupellosen Spekulanten jenen Schuldigen gefunden zu haben, der für die ganze Misere der vergangenen Jahre verantwortlich sei. Oliver Stone hat in der Fortsetzung von Wall Street (2010) seinen gierigen Gordon Gekko aus dem Gefängnis wieder auferstehen lassen. In Margin Call (2011) lieferte JC Chandor eine kühl insistierende Beobachtung von Abläufen innerhalb eines unbeherrschbaren Finanzsystems. Und zuletzt verfolgte David Cronenberg mit Cosmopolis (2012) einen Tag im Leben eines superreichen Finanzhais in dessen gepanzertem Luxusschlitten, unterwegs von Manhattan zum Frisör.
Frisierte Buchhaltung
Wie "margin call" bezeichnet auch "arbitrage" einen Terminus aus der Finanzwelt, er beschreibt eine Methode der Profitmaximierung mittels Handels an unterschiedlichen Märkten. Für den Film ist das ohne Belang, wichtig ist, dass Miller plötzlich ein paar hundert Millionen Dollar fehlen. Deshalb hat er seine Buchhaltung frisiert und versucht nun, seine Firma vor dem Auffliegen des großen Schwindels an eine noch größere Bank zu verkaufen.
Arbitrage erzählt somit zunächst von einem Kampf gegen die Zeit, also von einem für Leute wie Miller angeblich kostbaren Gut. Weil das amerikanische Mainstreamkino aber gerne dazu tendiert, solchen Konflikten noch familiäre Bürden aufzuladen, passiert Miller außerdem ein privates Malheur, das den geplanten Verkauf nicht gerade vereinfacht. Schwer verletzt steigt er aus dem Unfallwagen seiner Geliebten.
Von Beginn an zeigt der junge US-Regisseur und Drehbuchautor Nicholas Jarecki seinen Protagonisten unter Druck: wenn dieser abends zu spät zu seiner eigenen Geburtstagsfeier nach Hause kommt, den versammelten Gästen mit Mark Twain das Älterwerden als eine Einstellungssache erklärt ("Age is an issue of mind over matter. If you don't mind, it doesn't matter"), um gleich darauf unter einem fadenscheinigen Vorwand zu seiner heimlichen Liebschaft zu entschwinden.
Richard Gere liefert eine hervorragende Darstellung dieses getriebenen 60-jährigen Familienvaters und ergrauten Hedgefonds-Managers, der versucht, in beiden Welten zu überleben; der nichts Sympathisches an sich hat, aber viel Menschliches; der seine Frau (Susan Sarandon) betrügt, aber dennoch konservative Werte glaubhaft hochhält.
Der Verlust von Sicherheit, auf den die Erzählung hinausläuft, bietet Miller jedoch keine Möglichkeit zur Reue, wodurch Arbitrage sich einer moralischen Bewertung enthält. Für diesen Mann ändert sich nicht der Grad, sondern, wie Jareckis formidable Schlusssequenz mit ihrem abrupten Ende beweist, die Qualität der Einsamkeit. Was dieser Mann anderen gegenüber verschuldet hat, könnte sich am Ende für ihn als Strafe erweisen - aber nicht deshalb, weil er im entscheidenden Moment des Unfalls gegen die Regeln des Gesetzes und der Moral verstoßen, sondern weil er einfach das Beste auch für seine Familie getan hat.
I See What You Are - gerade weil niemand diesen Satz zu Robert Miller spricht, klingt er dem Film wie ein Echo der Selbsterkenntnis nach. Auf die Gefahr hin, dass er bei allen, die Miller nicht durchschaut haben, ungehört verhallt. (Michael Pekler, DER STANDARD, 12.2.2013)