
"Zweifelnder, linkischer, liebender Mensch": Georg Büchner.
Büchnerjahr 2013 ist's, vor 200 Jahren wurde er geboren, der Meister aus Hessen, was liegt also näher, als mit neuen Biografien aufzuwarten? Im Februar erscheinen gleich zwei, eine davon stammt von Hermann Kurzke, bekannt durch seine richtungweisende Thomas-Mann-Biografie - die Zeit nannte sie damals "die beste". Nun hat er sich Büchners angenommen. Sein 529 Seiten starkes Georg Büchner - Geschichte eines Genies ist eine ebenso spannende wie unkonventionelle Neu-Einordnung des außergewöhnlichen Dichters.
Anstatt brav bei der Geburt zu beginnen, schleudert Kurzke die Leser gleich mitten in einen der turbulentesten Momente im Leben Büchners hinein, in die Tage nach der Veröffentlichung des Hessischen Landboten 1834. Wie der Biograf hier aus einem Gewühl von Orts- und Personennamen, zwischen polizeilichen Untersuchungen und Fluchtbeschreibungen nach und nach das fiebernde Panorama dieser aussichtslosen Revolution im Großherzogtum Hessen-Darmstadt herausschält, das muss man einfach gelesen haben. Erst danach nähert Kurzke sich der Persönlichkeit Büchners, seiner Biografie, seiner Familienkonstellation und dem Anfang seines Lebens.
Und er beginnt, mächtig in Büchners Kopf einzudringen. Ja, Kurzkes Ansatz ist psychologisch-biografisch, und gleich zu Beginn trifft der Autor eine folgenschwere Vorentscheidung - allerdings mit offenen Karten. Da die Fakten über den "privaten" Büchner immer noch sehr dürftig sind, wird Kurzke im Verlauf der Biografie immer wieder " spekulieren", um Lücken zu schließen.
Er macht das natürlich wann immer möglich durch die Fakten abgedeckt - Kurzke ist ein echter Kenner, die Fußnoten verraten, wie tief er sich in die Sekundärliteratur eingearbeitet hat; und doch ist es anfangs überraschend, wenn der Autor in "streams of consciousness" von Büchner verfällt, von denen man nie ganz sicher weiß, ob das hier die Gedankengänge, Träume und Wünsche Kurzkes sind oder vielleicht doch die Georg Büchners. Ja, darf der das denn?, fragt man unwillkürlich. Wer sich aber auf diesen magischen Handel einlässt, wird reichlich belohnt. Zum ersten Mal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dem Menschen, dem Autor, dem Genie Büchner ein wenig näherzukommen.
Jawohl, dem Genie. Kurzke hat es sich nämlich zum Ziel gesetzt, Büchner aus dem Klischee des ewigen Sozialrevolutionärs zu befreien, den man nur auf eine Weise, nämlich politisch, interpretieren und betrachten darf. Dieses Bild stammt ja unter anderem auch daher, dass Büchners Bruder vor allem die "politischen" Briefe überlieferte, nur knapp 40 von 300 geschriebenen.
Das Bild hatte also schon immer Schieflage. Büchners revolutionäre Phase wird hier in ihrer ganzen Kürze vorgeführt. Wer sich dann an Kurzkes Hand weiterwagt, darf staunen über Büchner, den Christen, den hoffnungslos religiösen Menschen, dessen Freunde zumeist Geistliche und Theologen sind; oder den Naturwissenschaftler - Kurzke gelingt es, sogar ein eher trockenes Sujet wie das Dissertations- und Habilitationswesen im 19. Jahrhundert fesselnd zu erzählen.
Man staunt über Passagen, die auch beinahe 200 Jahre später noch einzigartig sind. Stellvertretend für viele präsentiert der Biograf gleich einmal jene Szene im Woyzeck, in der es um rollende Igel und unterirdische Freimaurer geht und wo die Sprache barsch, bruchstückhaft, unmittelbar ist. Das ist große Literatur, wird aber so präsentiert, dass sie einfach Spaß macht. Büchner also nicht als politisches Symbol in der Vitrine, sondern als ein genialer, zweifelnder, linkischer, liebender Mensch; so zieht er an uns vorbei und brennt sich ins Gedächtnis ein.
Auch die Präsentation der Werke aus dem Büchner-Kanon ist neuartig: Von Dantons Tod über Lenz, Leonce und Lena bis zum kryptischen Woyzeck (" Einen Woyzeck von Büchner gibt es nicht") ordnet Kurzke sie stark in den jeweiligen biografisch-psychologischen Lebensabschnitt ein, spekuliert hier über die Herkunft und Verortung der Obszönitäten aus Dantons Tod, rätselt dort über die Basis der Religions-Atheismus-Debatten des Revolutionsdramas und sucht sie bei einer gemeinsamen Wanderung.
Er fragt sich mit dem Leser, was es bedeuten mag, dass Büchner den Lenz' schen Wahnsinn so gut beschreiben kann, und stößt auf der Suche nach einer geheimnisvollen "fille perdue" in die Untiefen des erotischen Lebens und Denkens Büchners vor. Es mag manchem Leser aufstoßen, wie Kurzke da Dialoge aus einem Werk direkt, mit veränderten Namen, herunterschreibt und sie Büchner selbst erleben lässt; und doch, wie viel mehr ahnen wir nachher von den Texten und ihrem Bezug zu Büchners Leben.
Allerdings muss ich zugeben, dass hier, in diesem Teil, Kurzkes Methode an Grenzen stößt - zwangsläufig, es sind einfach zu wenig gesicherte Fakten zum Privaten Büchners gegeben, wenige verwendbare Fetzen aus den Briefen, die immer wieder in Bezug zu den verschiedenen Kontexten gesetzt werden müssen. Sehr gut aber ist der Einfall, bei Büchners Sterben alle Stellen aus seinen Werken noch einmal Revue passieren zu lassen, wo es um Krankheit, Tod, Himmel und Hölle geht.
Erfrischend auch - zwischendurch - der ungeheuer lebhafte Abschnitt über Büchners Studien. Es öffnet sich eine Welt von zerlegten Fischen, Umrechnung von Studiengebühren (Louis d'or! Sol!) und Preisvergleichen (Wohnen und Essen billig, Reisen und Bücher teuer!).
Wenn man schließlich noch in Büchners Kopf anwesend sein darf, während er Leichen seziert und Hautlappen beiseitelegt, ist man selbst praktisch zum Medizinstudenten im 19. Jahrhundert geworden. Und doch, bei aller Nähe, wird Kurzke selbst am Schluss gestehen: "Wir haben die Festung Büchner mit allen Mitteln berannt, aber wir haben sie nicht nehmen können." Bei Büchner bleibt alles Stückwerk.
Zusammengefasst? Ein Buch für Einsteiger, aber vielleicht noch mehr für erfahrenere Büchner-Leser. Es steht zu erwarten, dass die "Geschichte eines Genies" Widerspruch hervorrufen wird, vielleicht auch Erregung; zu frech rüttelt Kurzke an vielen liebgewonnenen Bäumen der Tradition. Wer also eine brav chronologische Biografie zum Herauskopieren (für den Unterricht) sucht oder eine schematische Einführung in Leben und Werk, der wird anderswo ausgiebig bedient. Wer hingegen ein passioniertes und engagiertes Porträt Büchners, seines Denkens und seiner Zeit lesen will, der greife zu Kurzke - und verziehe sich in eine ungestörte Leseecke. (Eduard Habsburg, Album, DER STANDARD, 16./17.2.2013)