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"Abrissbirne Berlusconi", hier als Karnevalsfigur.

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Jack Walston: "Der Partito Democratico kämpft nicht genug, um die Führung in den Umfragen zu verteidigen."

Foto: American University of Rome

September 2010, Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi stand gehörig unter Druck. Die Wirtschaftskrise traf das Land gerade mit voller Wucht, den Regierungschef selbst machten zahlreiche Skandale zu schaffen, und sein Parteienbündnis hatte auch schon bessere Umfragewerte erlebt. Mitten in dieser unruhigen Zeit verfasste der britische Politologe James Walston, Professor an der amerikanischen Universität in Rom, einen Artikel über Italien. Titel: "Der Bordellstaat". Die Empörung im Stiefelstaat war groß, der italienische Botschafter in den USA antwortete ungehalten, Walston konterte.

Nun, mehr als zwei Jahre später, würde Walston diesen Begriff nicht mehr verwenden, hat sich die politische Situation in Italien doch stabilisiert. Allerdings besteht nach der Parlamentswahl am 24. und 25. Februar die Gefahr eines Rückfalls in alte Zeiten, wie er im Interview mit derStandard.at erklärt. Zudem spricht Walston darüber, wieso Italiens Politik gerne belächelt wird, warum Pier Luigi Bersani um seinen Wahlsieg kämpfen muss und weshalb man Benito Mussolini ungestraft loben darf.

derStandard.at: Vor mehr als zwei Jahren haben sie Italien als "Bordellstaat" bezeichnet. Wie würden Sie das Land heute nennen?

James Walston: Ich bezog mich damals nicht auf Silvio Berlusconis Sexskandale, wie irrtümlich angenommen, sondern auf ein Zitat von Dante in der "Göttlichen Komödie". Da wird Italien als Schiff bezeichnet, das ohne Steuermann in einem Sturm treibt.

Seitdem hat sich die Situation gebessert. Vor mehr als einem Jahr wurde ja mit Mario Monti ein Steuermann gefunden, der dem Schiff eine Richtung gibt. Aber nach der Wahl besteht leider wieder die Gefahr der Orientierungslosigkeit, auch wenn Umfragen etwas anderes prognostizieren.

derStandard.at: Was wird denn prognostiziert?

Walston: Eine absolute Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und eine relative Mehrheit im Senat für das Mitte-links-Lager. Das heißt, im Senat wäre eine Unterstützung von Mario Montis Zentrumsblock notwendig. Man muss aber bedenken, dass Meinungsumfragen nicht mehr veröffentlicht werden dürfen. Eine gewisse Unsicherheit ist also da.

derStandard.at: Welche Konsequenzen hätte dieses Ergebnis für das Schiff Italien?

Walston: Kommt es zu diesem Ergebnis, dann wäre es das Beste für Italien und Europa. Es würde eine Fortsetzung von Mario Montis und Pier Luigi Bersanis Politik bedeuten. Bersanis Partito Democratico hat ja die Vorhaben von Montis Regierung immer unterstützt.

Dieses Ergebnis wäre auch ein wichtiges Zeichen der Stabilität für die Finanzmärkte, für die italienische Wirtschaft und die europäischen Institutionen. Die neue Regierung würde die Sparmaßnahmen reduzieren und Wachstumspakete beschließen.

derStandard.at: Was wäre das schlechteste Ergebnis für Italien?

Walston: Ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse, in der Folge ein unregierbares Italien, und ein hoher Anteil von populistischen Abgeordneten und Senatoren.

derStandard.at: Wen meinen Sie mit Populisten?

Walston: Die lautesten Populisten sind jene von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung. Und natürlich ist auch Berlusconi ein Populist und bereit, die politische Abrissbirne zu spielen.

derStandard.at: Die Abrissbirne spielt im Wahlkampf ihr übliches Spiel, verspricht viel, attackiert heftig und sieht sich als Verschwörungsopfer. Wieso funktioniert das immer noch?

Walston: Es funktioniert, weil Berlusconi sehr überzeugend ist in dem, was er tut. Er ist ein guter Verkäufer, er hat große ökonomische Ressourcen, und er weiß die Medien gut einzusetzen. Er hat das Mitte-rechts-Lager vereinigt, er schürt wieder die Angst vor den Linken, die er als "Kommunisten" bezeichnet. Und dafür ist immer noch ein relativ großer Teil in der Bevölkerung empfänglich.

derStandard.at: Trotz steigender Zustimmung ist Berlusconis Mitte-rechts-Lager noch weit von früheren Umfragewerten entfernt. Was hat sich im Vergleich zu früheren Wahlen geändert?

Walston: Er hat so viel versprochen und so wenig eingehalten, dass es doch Leute gibt, die ihm nicht mehr vertrauen.

derStandard.at: Im Gegensatz dazu gilt Bersani als unspektakulärer Pragmatiker. Kritiker würden ihn wohl als langweilig bezeichnen.

Walston: Bersani war nie jemand, der ein Wahlkampf-Feuerwerk gezündet hat. Er ist ein kompetenter Politiker und hat einen zuverlässigen Wirtschaftsminister abgegeben. Er ist bodenständig, er verspricht niemandem die Welt, wie es Berlusconi macht.

Sein Problem und das seiner Parteifreunde ist, dass sie glauben, den Wahlsieg schon in der Tasche zu haben. Sie kämpfen nicht, oder zumindest nicht genug, um die Führung in den Umfragen zu verteidigen.

derStandard.at: Was meinen Sie damit konkret?

Walston: Nehmen Sie Beppe Grillo. Der ist an jedem Platz in Italien zu sehen, und er wird seinen Wahlkampf am Freitag mit einem großen Auftritt in Rom beenden. Auch Berlusconi ist omnipräsent, im Fernsehen, im Radio. Und das ist Bersani eben nicht. Er soll nicht den gleichen Ton anschlagen wie die anderen, aber er muss sich mehr bemühen, um seine Stimmen abzusichern.

derStandard.at: Kämpft Mario Monti genug im Wahlkampf?

Walston: Monti schlägt sich überraschend gut, wenn man bedenkt, dass er zuvor eigentlich nie ein Wahlkämpfer war. Er ist ein überaus kompetenter Politiker, aber eher auf den Fluren Brüssels als auf italienischen Plätzen. Er ist kein brillanter Rhetoriker, hat aber einen scharfen Verstand und einen Sinn für Humor.

Montis Problem ist, dass er sich noch nicht entschieden hat, welche Rolle er auf der politischen Bühne einnehmen will. Er wird als zu soft verschrien, deshalb hat er im Wahlkampf schärfere Töne angeschlagen. Er lässt sich filmen, wie er eine Schule besucht und Sechsjährige auf den Arm nimmt. Aber man merkt bei alldem, dass das nicht zu ihm passt, dass er sich dabei nicht wohlfühlt, denn eigentlich ist er ja Uni-Professor. Deshalb wirkt er bei diesen Auftritten wie eine Puppe, oder wie ein verirrter Hund. Trotzdem schlägt er sich besser als erwartet.

derStandard.at: Wie fanden sie seine Amtszeit als Ministerpräsident?

Walston: Er hat den Niedergang Italiens gestoppt, es aber nicht geschafft, der Wirtschaft und der politischen Szene in Rom eine neue Richtung zu geben. Die Trägheit in der Verwaltung und den Widerstand der Opposition konnte er einfach nicht überwinden.

derStandard.at: Sie haben vor zu vielen populistischen Abgeordneten gewarnt. Was erwarten Sie sich von Beppe Grillos Leuten, wenn Sie erstmals ins Parlament einziehen? Das werden Umfragen zufolge an die hundert oder mehr sein.

Walston: Gute Frage. Das ist ja keine Partei im klassischen Sinn. Es ist eine sehr zentralistische Bewegung, Grillo allein entscheidet, auch wenn er selbst nicht im Parlament vertreten sein wird.

Wenn die Abgeordneten es nicht schaffen, sich zu organisieren und eigene Regeln aufzustellen, dann wird diese Bewegung so rasch verschwinden wie Schnee im Frühling. Dann werden sie nämlich rasch zu anderen Parteien überlaufen. Ich erwarte aber, dass sie sich tatsächlich organisieren und die parlamentarische Arbeit behindern werden.

derStandard.at: Sie unterrichten ja auch Geschichte. Berlusconi hat vor Kurzem Benito Mussolini gelobt, in vielen Bereichen soll er demnach Gutes geleistet haben. Wie sieht es mit der Vergangenheitsbewältigung in Italien aus?

Walston:: Italien hat den Faschismus im Zweiten Weltkrieg noch immer nicht gründlich aufgearbeitet. Und da Berlusconi in den letzten 20 Jahren oft mit postfaschistischen Parteien koaliert hat, ist es zu einer Art Rehabilitation des Faschismus gekommen.

Trotzdem ist es außergewöhnlich, dass ein Politiker von so hohem Rang, noch dazu ein ehemaliger Ministerpräsident, so etwas sagen darf. Ein österreichischer oder deutscher Regierungschef könnte so etwas nicht über den Nationalsozialismus sagen. Hier ist es aber möglich, ohne dass es Konsequenzen gibt. Und es ist nicht das erste Mal, dass Berlusconi so etwas von sich gibt. Das sagt eigentlich alles.

derStandard.at: Sie beschäftigen sich auch intensiv mit der italienischen Außenpolitik. Wie ist der internationale Stellenwert des Landes derzeit?

Walston:: Italien hat unter Monti sehr viel an Prestige gewonnen. Er wurde in der EU als eine Art Gegengewicht zur deutschen Kanzlerin Merkel gesehen, als einer der wichtigsten Protagonisten, um die deutschen Sparambitionen abzufedern. Das war möglich, weil Monti als Wirtschaftsexperte respektiert wurde. Zudem hat er sich sehr gut mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande verstanden.

Auch in den USA genießt Italien einen guten Ruf. Das hat sich letztes Jahr gezeigt, als Monti zu Besuch in Washington war. Und auch vor ein paar Tagen wieder, als Staatspräsident Napolitano mit US-Präsident Obama zusammentraf. Da herrschte eine sehr freundschaftliche Atmosphäre.

derStandard.at: Trotzdem wird das politische Italien gerne belächelt. Was macht es so speziell?

Walston: Italien ist nicht in der Lage, normal zu werden, wie die meisten europäischen Länder. Es grassiert Korruption, es existierte lange Zeit kein adäquates Mitte-links-Lager, es gibt auch kein normales Mitte-rechts-Lager, weil Berlusconi kein normaler Parteichef ist.

Es gibt zudem eine hohe Toleranzgrenze für politisches Fehlverhalten. Und schließlich ist auch rund 150 Jahre nach der Vereinigung Italiens das nationale Bewusstsein noch nicht ausgeprägt. Man weiß einfach nicht, was Italien wirklich ist. Das klingt lächerlich, entspricht aber der Wahrheit. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 19.2.2013)