"Mama", sagt das Kind, "ich kann mich kaum noch erinnern!" Ich brauche nicht nachzufragen, was es meint. Ich weiß es. Das Kind meint: "an früher". Auch wenn es eine Weile her ist, ist es noch immer so, dass die Trennung der Eltern das Leben eines Kindes scharf trennt: in ein Vorher und ein Nachher. Dieses Nachher überlagert mehr und mehr das Vorher. Auch wenn "vorher" viele Jahre waren. Ein knappes Jahrzehnt zum Beispiel, von der Geburt bis zum Gymnasium, mehr als zwei Drittel eines Kinderlebens.

Trotzdem fühlt es sich für Kinder (manchmal auch für Eltern) so an, als würde vieles fast unmerklich hinter der Gegenwart verschwinden. Die ist gut und wichtig, denn wir leben im Jetzt. Aber ausschließlich? Trennungskinder brauchen eine Erinnerungskultur. Sie brauchen Menschen und Räume, die sie zulassen, inklusive neuer Partner und Familien: Babyalben anschauen, alte Geschichten aufleben lassen, von früher erzählen. Nur so geben wir Kindern das Gefühl, dass die Familiengeschichte, der sie entstammen, schön war und richtig und gut. Dass diese Zeit ihnen nichts und niemand wegnehmen kann.

"Versteh mich nicht falsch, Mama", sagt das Halbe-halbe-Kind, "ich kann mir heute kein anderes Leben mehr vorstellen als das jetzt." So ein Satz entlastet das schlechte Gewissen von Scheidungseltern enorm. "Denn ich liebe sie auch und kann mir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen", erklärt das Kind weiter. Ich verstehe nicht gleich, wen oder was es meint. Langsam dämmert es. Richtig: die neuen Partner, Bonusmenschen, das Hier und das Jetzt. Bei dem Gedanken schlucke ich schon, aber nur ein bisschen. Dann fällt es mir wieder ein: Auch das ist schön und richtig und gut. (Mia Eidlhuber, derStandard.at, 24.2.2013)