Rotraud A. Perner: "Die Zeiten kontemplativen Vor-sich-hin-Forschens sind vorbei."

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Die Zeiten kontemplativen Vor-sich-hin-Forschens sind vorbei. Selbst wenn jemand Forschen und Lehren in Balance bringt, bleibt oft nicht ausreichend Zeit zum Publizieren - und zur Drittmittelaufbringung -, das im Eigentlichen zu einem anderen Beruf, nämlich dem des Agenten, Maklers, Lobbyisten gehört und für den Wissenschaftsnachwuchs oft missbräuchlich zum Karrierekriterium stilisiert wird. Der entstehende Stress wird üblicherweise als Zeit- und Leistungsdruck verstanden.

Ich hingegen definiere Stress als Ausschüttung von Stresshormonen, und genau danach frage ich bei meinen Workshops: "Woran merken Sie, dass Sie in Stress geraten?" Die meisten Menschen besitzen dafür keine synchrone Wahrnehmung, sondern übernehmen suggestiv wirksame Aussagen anderer, die um Wertschätzung ihrer Belastungen werben.

Wenn man die häufigste Stresshormonausschüttung - den uns wohl allen wohlvertrauten Adrenalinstoß - mit den auslösenden Situationen in Beziehung setzt, zeigt sich, dass diese Reaktion meist dann eintritt, wenn man sich überfordert fühlt - beispielsweise wenn man sich plötzlich mit einer lebensgefährlichen Katastrophe wie etwa entgegenschlagendem Feuersturm konfrontiert sieht und noch nicht darauf eingeübt ist, wie man mit solch einer Gefahr routiniert umgeht. Solche Situationen treten im Universitätsbetrieb fast nie auf.

Sehr wohl treten aber Situationen auf, in denen die psychische Gesundheit und damit gleichzeitig die leibseelischgeistige Integrität gefährdet ist, und leider viel zu häufig, wie ich von meinen universitär lehrenden und forschungswilligen KlientInnen weiß.

Populär formuliert signalisiert der Adrenalinausstoß, dass sich der Körper kampfbereit macht: Er vermittelt einen kurzfristigen Kraftzuwachs, der, biologisch entschlüsselt, zur Beschleunigung und Verstärkung dient. All dies sind Verhaltensweisen, die wir "um des Friedens willen" - oder aus berechtigter Angst vor Folgen - üblicherweise unterdrücken. (Tun wir das nicht, gelten wir zumeist als psychisch auffällig oder zumindest "psychisch nicht belastbar" - auch wenn das eigentlich Gesundheit fördernde Reaktionen wären.)

"Stressursache soziale Inkompetenz"

Die häufigste Stressursache im universitären Arbeitsalltag ist mangelnde Sozialkompetenz von Vorgesetzten, die zweithäufigste mangelnde Solidarität der KollegInnenschaft.

Es braucht Mut (und oft auch kommunikationsstrategische Unterstützung von einem universitätserfahrenen Coach), den Institutsvorstand, der gerade stolz seine neueste Publikation präsentiert, vor versammelter KollegInnenschaft darauf hinzuweisen, dass er den Hauptautor der Studie - es handelte sich im konkreten Fall um einen Mann - anzuführen "vergessen" habe; in diesem Fall wurde nachträglich ein Korrekturblatt eingelegt.

Es braucht Mut und hohe Frustrationstoleranz, auf zum Beispiel grundlos verweigerten Unterschriften für Habilitationsstipendien zu bestehen (was in den mir bekannten Fällen erfolglos war). Es braucht noch mehr davon und zusätzlich hohe Ich-Stärke, auszuhalten, dass sich die Personalvertretung oft gar nicht engagiert, wenn aber doch, dann meist ebenso erfolglos und vom Imperium zurückgeschlagen. Aus meiner Erfahrung sind es meist persönliche Antipathien und, wenn es Frauen betrifft, vorurteilsbehaftete Zweifel an deren biologisch gefährdeter Qualifizierungsfähigkeit, die von vornherein Chancen vernichten. Die klassische Aschenbrödelstrategie - es könnte sich ja jemand als fleißiger, begabter, beliebter, vor allem aber systemkritisch innovativ bewähren ...

Zu den beliebten Strategien des Psychoterrors zur Zerstörung der Selbstachtung missliebiger KollegInnen, wie ich sie in meiner multidisziplinären Beratungspraxis immer wieder berichtet bekommen habe, gehören neben absichtlich induzierten Negativbewertungen (wie zum Beispiel bei Evaluierungen) - die selbstverständlich keinem öffentlichen Monitoring unterzogen werden - vor allem Gesprächsverweigerung und üble Nachrede. Wie wenn nicht die Verhinderungsstrategien ausreichend wären, um das mögliche "Andere" in sicherer Distanz zu halten!

Ich habe erlebt, wie HochschullehrerInnen, die sich gegen solche ungerechtfertigten Abwertungen mit allen zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln gewehrt hatten, mit psychiatrischen Diagnosen (Paranoia querulans) verunglimpft wurden, ja wie sie sogar aufgefordert wurden, sich zum Gegenbeweis psychiatrieren zu lassen.

Schulung zur Machtausübung

Es ist wohl dringend an der Zeit, Menschen, die zur personellen Machtausübung über andere berechtigt sind, zu schulen, damit sie lernen, versuchte Selbstbehauptung zu respektieren und nicht durch Legendenbildung zu verteufeln.

Wissen allein ist aber zu wenig - es gehört auch die Einübung salutogener Kommunikation dazu, und: eine verpflichtende Selbsterfahrung zur Wahrnehmung eigener Vorurteile, Diskriminierungstendenzen und auch der eigenen Prägungen als Opfer von genau den Attacken auf das Selbstwertgefühl, die man im "Wiederholungszwang" so leicht an andere weitergibt.

Ich vermute, dass die Personen, die im Sinne des "militärischen Erziehungsmodells" auf aktive wie passive Härte geschult wurden, bei solchen Vorschlägen auf Spott und Hohn ausweichen werden. "Creating New Universes" macht vielen Angst - vor allem denen, die ihren Glauben an Verbesserungsmöglichkeiten schon lange verloren haben.

Aber so, wie vielfach der Besitz des B-Führerscheins als generelle Berufsqualifikation vorausgesetzt wird - es kann ja jeder Mensch plötzlich einen anderen ins Spital fahren müssen beziehungsweise sollte zumindest die Regeln des Straßenverkehrs kennen -, ist in der heutigen Konkurrenzgesellschaft die Beherrschung der Regeln eines gewaltarmen zwischenmenschlichen Verkehrs dringend erforderlich.

"Salutogene Führung von Menschen"

Hier gibt die mit Jahresbeginn in Kraft getretene Novellierung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes Hoffnung, in der als mögliche Gefahren nicht mehr nur physische, sondern auch "arbeitsbedingte psychische Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen", pointiert werden; dazu betont der neue Gesetzestext auch die "Integrität und Würde" der ArbeitnehmerInnen als schützenswertes Gut. Durch Befragung der ArbeitnehmerInnen sollen derartige Belastungen erhoben und evaluiert, aber auch präventiv ausgeschaltet werden.

Was dabei offen bleibt, ist die Frage, ob die für diese Erhebungen vorgesehenen Fachleute bei Nachfragen nach den Strukturen, die die Psyche belasten können, ihr Augenmerk nur auf Leistungs- und Konkurrenzdruck, Informationsmängel beziehungsweise Informationsüberflutungen, monotone Arbeitsvorgänge oder isoliertes Arbeiten richten werden oder ob sie es auch wagen werden, die vertikale wie horizontale Kommunikation im Hinblick auf die Gesundheit schädigende Wirkungen zu evaluieren. Denn was ich seit mehr als 20 Jahren in meinen Schulungsseminaren mit ArbeitsmedizinerInnen immer wieder zu hören bekommen habe, war, dass dies das Tabuthema sei - und sie selbst auch davon betroffen seien.

Im Gesetz heißt es nun, dass im Rahmen der Grundsätze der Gefahrenverhütung auch "der Stand der Ausbildung und Unterweisung der Arbeitnehmer" zu berücksichtigen sei; das hieße in Hinblick auf Prävention pathogener Attacken auf die Integrität und Würde von ArbeitnehmerInnen, dass hier die besondere Sozialkompetenz des solidarischen Schulterschlusses mit Opfern verbaler Unter- oder Übergriffe statt des üblichen Wegschauens, Schweigens und Stillhaltens gefordert, anerkannt und beschützt werden müsste - und: Diese Kompetenz ist vor allem von den Vorgesetzten einzufordern! Sie sind es, die den Ton vorgeben und die sich vielfach im Sinne von "princeps legibus solutus" von der Pflicht, Gesetze zu befolgen, befreit wähnen.

Menschen am Rande des Burn-out sind hochaggressiv - das unterscheidet diesen Zustand von dem der Erschöpfungsdepression (was leider selten korrekt differenziert wird, Burn-out klingt einfach beeindruckender) - und vergreifen sich dann oft im Ton und beschuldigen MitarbeiterInnen mangelnden Arbeitseinsatzes oder persönlicher Unzulänglichkeiten. Damit verletzen sie die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, die ja auch darin besteht, genaue Arbeitsanweisungen, das heißt auch Verbesserungsbedarf zu präzisieren und anzuleiten. Da Hochschulstudien auch der wissenschaftlichen Berufsvorbereitung dienen (sollen), sollte im Hinblick auf eine doppelte und dreifache Wirksamkeit - von Vorgesetzten zu Mitarbeitern, von KollegInnen zu KollegInnen und auch zu den Studierenden - die Methodik salutogener Kommunikation fächerübergreifend vermittelt werden. (Rotraud A. Perner, derStandard.at, 25.2.2013)