Die Chibinen sind ein bemerkenswertes Gebirge: Ihre maximal 1200 Meter hohen Gipfel bilden einen kleinen, runden Eisgupf mitten in der russischen Tundra.

Foto: Roland Wiedemann
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Die Förderbänder im Bergbaustädtchen 25 Kilometer schicken unablässig ihren surrealen Soundtrack in die sonst menschenleeren Tiefschneehänge auf der Halbinsel Kola.

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Mit Snowxplore macht Mathias Andrä genau das, was der Firmenname vermuten lässt: Er sucht unablässig nach neuen Gebieten zum Skifahren und Snowboarden im freien Gelände. Fündig wurde er unter anderem mehrfach in Russland, Usbekistan, Kirgisistan und in Alaska; Info: www.snowxplore.de

Grafik: DER STANDARD

Dichte Wolken hängen an den Gipfeln über dem Bergbaustädtchen nördlich des Polarkreises. Unten im Tal ist nicht der Frohsinn verkündende Lärm aus einer Schirmbar zu hören, sondern verstörendes Rattern von Förderbändern. Ein Geräusch, das nur vom Schaben unserer Ski unterbrochen wird, sobald wir über die verharschten Hänge scheppern. Nie wären wir auf die Idee gekommen, man könnte beim Skifahren depressiv werden. In der Industriestadt mit dem Namen 25 Kilometer scheint das möglich.

Während Sascha, unser russischer Guide, in der Liftspur über Eisbrocken balanciert, fragen wir ihn, woher der seltsame Ortsname kommt. "Die nächste Eisenbahnlinie liegt 25 Kilometer entfernt", antwortet er in einem perfekten Deutsch. Ein nächtlicher Sturm hat das Seil des nächsten Lifts, der uns nun zum Gipfel bringen soll, aus den Halterungen gerissen. Sascha zeigt uns auf einer Art Liftplan die Hänge, die wir mithilfe der defekten Anlage hätten erreichen können. "Vielleicht morgen" , macht er uns Mut.

Auf wunderbare Weise haben es die Liftwärter bis zum nächsten Morgen fertiggebracht, das schwere Stahlseil mit den bloßen Händen wieder einzuhängen. Als wir unsere Ski und Snowboards aus den Taxis laden, taucht ein erster blauer Fleck am Himmel über 25 Kilometer auf. Wer einmal die alles verändernde Kraft der Sonne in ihrer vollen Wirkung erleben will, der sollte hierherreisen. Wir sind dafür nach Sankt Petersburg geflogen, 23 Stunden lang mit dem Zug durch endlose Birkenwälder in Richtung Norden gerollt und haben auf der Halbinsel Kola ein Gefühl für die Weite Russlands bekommen. So wie sich der Nebel auflöst, verflüchtigen sich auch die Zweifel, ob es den Aufwand wert war.

Wir schnappen uns Bügel oder Teller, so genau weiß man nie, was beim Lifteinstieg auf einen zukommt. Von der verwaisten Bretterbude, der Gipfelstation, könnten wir nun jene Hänge hinunterfahren, die uns Sascha gestern auf der Karte gezeigt hat. Doch seine Skispitzen zeigen in die entgegengesetzte Richtung. Vor uns weites, baumloses Terrain, das im Nirgendwo der Tundra endet. 600 Höhenmeter später blickt er erleichtert in unsere glücklichen Gesichter. Seine Kumpel, deren Schneemobile schon von weitem zu hören waren, warten auf uns. Zwar erschließen hier die drei Lifte - wenn sie funktionieren - ein ganz ordentliches Gebiet, aber erst durch die knatternden Skidoos werden die bis zu 1200 Meter hohen Chibinen-Gipfel wirklich zur herausragenden Freeride-Destination in der weißen Prärie des Wilden Ostens.

Industriegebiet mit Sauna

Der gelungene Skitag endet am Rande des Industriegebiets von Kirowsk, einer schmucklosen Kleinstadt, wo wir in einem ebenso schmucklosen, aber sauberen Hotel nächtigen und der Schnee sich meterhoch an den Straßenrändern türmt. Zum Umziehen bleibt keine Zeit, so stapfen wir in Skischuhen in Richtung Sauna, bereits ein Glas Wodka in der Hand. "Das gehört hier so", klärt uns Mathias Andrä auf. Er hat den Trip an den Polarkreis organisiert. Nun muss er nur noch beantworten, wie um alles in der Welt er auf dieses Gebirge mit einem Durchmesser von gerade mal 45 Kilometern gestoßen ist. Eigentlich habe er im Internet nach Tiefschneehängen im Ural gesucht, erklärt Mathias, der, wenn er mit seinem Snowboard nicht in Russland, Usbekistan oder Kirgistan unterwegs ist, Konzertbühnen aufbaut. Dabei fiel ihm ein Foto mit spektakulären Bergen und Industrieanlagen im Vordergrund auf. "Die Berge im Ural sehen anders aus", dachte er sich. Und in der Tat war das Bild falsch verlinkt. Es zeigte Kirowsk, wie er bald herausfand. Deshalb sind wir jetzt hier.

Am nächsten Morgen, nach einem deftigen Frühstück mit Knackern und einem Berg Nudeln, warten die Schneemobilfahrer vor einer Fabrikanlage auf uns. Wir dringen heute tiefer ins Gebirge ein, es ist frisch, aber keineswegs zu kalt, um die Fahrt durch die atemberaubende Landschaft nicht genießen zu können. In einer alten Geo-Station erwartet uns Dimitry, der früher Microsoft-Eventmanager in Moskau war, bevor er in die Einsamkeit der Chibinen floh. Es seien auch schon Gäste aus Thailand und Südafrika da gewesen, erzählt er. "Die wollten richtigen Winter spüren." Und das - wenn schon keinen Luxus - kann er hier bieten.

Als wir die warme Stube verlassen wollen, haben sich wieder Wolken vor die Sonne geschobenen. "Wir haben Zeit", beruhigt uns Mathias. "Im März sind die Tage am Polarkreis schon recht lang." Dimitry serviert Elchrouladen, es folgt ein langer Mittagsschlaf. Kurz vor 17 Uhr bricht dann doch Hektik aus. Die Wolken haben sich endlich verzogen für ein unvergessliches Wedeln unter dem rosafarbenen Abendhimmel. Zwei Stunden später stehen wir erneut am Grat, bereit für die Sundowner-Abfahrt.

Im Scheinwerferlicht der Schneemobile und mit Sturmhauben unter den Helmen erreichen wir die Geo-Station. Minus 18 Grad - erstmals kriecht die Kälte so richtig in die Glieder. Dimitry heizt die Sauna an und stellt die obligatorische Flasche Wodka dazu, das Schockbad im eiskalten Fluss vor der Holzhütte ist optional. Jemand ruft "Polarlight". Und tatsächlich ist am Firmament ein grünlicher Schein zu sehen, über uns funkeln die Sterne, und unter unseren Patschen knirscht der kalte Schnee - ganz so wie wir uns das vorgestellt hatten. Es wird ein langer Abend mit Wodka und Tunfisch aus der Dose.

Am Morgen danach ist der Kopf erstaunlich leicht. Dennoch tut die Frischluft auf den Schneemobilen gut. Wieder steuern wir ein neues Revier an, wo wir den ganzen Tag verbringen. Pausenlos schnurren die Schneemobile auf und ab, der Shuttle-Service auf das Plateau funktioniert perfekt. Zwar versperren Felsen an vielen Stellen den Zugang zu den Hängen, aber Mathias kennt die Einstiege. Die Szenerie ist grandios und respekteinflößend zugleich. 25 Kilometer scheint auf einmal tausende Kilometer weit weg zu sein und ist doch immer ums Eck. (Roland Wiedemann, Rondo, DER STANDARD, 1.3.2013)