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"Man versteht, dass Frau K. mit ihrer Vergangenheit umgehen muss, aber ist es der richtige Weg, sie mit allen zu teilen?": Natascha Kampusch und ihr Film-Ich (Amelia Pidgeon) bei der Filmpremiere am 26. Februar.

foto: EPA/URSULA DUEREN

Gibt man dieser Tage die Zahlenfolge 3-0-9-6 in den Computer ein, scheinen in 0,14 Sekunden mehr als 54 Millionen Einträge auf. Mehr als 54 Millionen Mal Interesse am Schicksal der jungen Österreicherin Natascha Kampusch, jener jungen Frau, die acht Jahre lang von Wolfgang Priklopil gefangen gehalten wurde.

Seit fast sieben Jahren versorgen uns die österreichischen Medien mit einem nicht versiegen wollenden Fluss an Informationen zu den Schrecknissen ihrer Lebensgeschichte. Dieser Tage kommt ihre Biografie als 3096 Tage in die Kinos.

Nicht erst jetzt, schon seit den ersten Interviews tue ich mir schwer, die Namen Kampusch und Priklopil auszusprechen. Die so breit ausgewalzte Schreckensgeschichte kursiert in aller Munde, wird in öffentlichen Verkehrsmitteln und an Arbeitsplätzen zerkaut und, Pardon, ausgespien, und fast meint man ein Anrecht aller auf die Geschichte dieser jungen Frau in unserer Stadt zu verspüren.

Indem ich die Protagonisten im Folgenden K. und P. nenne, soll Distanz geschaffen werden. Ich verweigere mich diesem seit Jahren vor allem medial kultivierten Verwirrspiel zwischen Lust und Mitleid. Man, jeder, Mann und Frau kann gefühlsmäßig nach Belieben nachleben und nacherzählen, ausschmücken, interpretieren - und jederzeit wieder vergessen. Es ist ja zum Glück nicht das eigene Leid.

Echtes Mitleid, sagt der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, könne es nicht geben, denn die wahren Erfahrungen des Leides seien individuell und von einem Du nicht nachvollziehbar. So bleibe der andere immer außen vor, und die Hilfe könne höchstens in einem Angebot der Begleitung bestehen.

In ihrer Biografie 3096 Tage, die 2010 erschienen ist, verzichtete Frau K. noch auf Details zur Sexualität. Diese "Würze" wird nun im Film nachgeliefert. Auf wessen Konto geht das? Hat sich der Filmproduzent durchgesetzt, um die Einspielquote zu erhöhen?

K. muss ja wohl die Informationen geliefert haben und die Szenen freigeben, anders kämen sie nicht auf die Leinwand. Welche Gründe hatte Frau K., sich derart zu exponieren?

Erster Versuch einer Erklärung: Wie oft hat sie sich nicht selbst - eine paradoxe Situation - mit verschiedenen Aspekten der Geschichte in der Öffentlichkeit Gehör verschafft, um sich bald darauf gekränkt über den Voyeurismus eben dieser Öffentlichkeit zu beschweren.

Muss sie etwa ihren Lebensunterhalt mit ihrer Lebensgeschichte verdienen? Hoffentlich nicht! Andernfalls sollte man auf der Stelle einen K.-Hilfsfonds gründen. Es darf nicht sein, dass sie sich, nach all dem, was ihr angetan wurde, ein Leben lang verkaufen muss!

Das dämonisch Unfassbare

Zweiter Versuch: Oder versteht sie es als Teil ihrer Aufarbeitung, dass sie sich Schritt für Schritt und jetzt auch in die Offenbarung intimster Details vorwagt? Ist Frau K. so "mutig", nun auch darüber zu sprechen?

In guter Freud'scher Tradition muss das dämonisch Unfassbare in Sprache gebracht werden, dass es begriffen und bearbeitet werden kann. Therapeutisch will man zu fassen bekommen, was es zu überwinden gilt, sich lösen von erlebten Schrecken, um weiterleben zu lernen.

Durch die Verfilmung wird aber nicht aufgearbeitet, sondern eine Identität erschaffen, eine Rolle, von der K. ihr Leben lang nicht mehr loskommen wird.

Im Unterschied zu Schauspielern, die wie zum Beispiel Scarlett Johansson mit ihrer Erotik kokettieren, kann sich K. nicht mehr von ihrer Rolle im Film distanzieren. Es gibt für sie die Ebene des Schauspiels nicht - sie ist die Person im Film und wird nie mehr anders als in diesen Bildern wahrgenommen werden.

Versuch Nummer drei: Vielmehr scheint es sich um die Wiederholung eines Musters zu handeln: Damals im Keller gab es eine vorgestellte Wirklichkeit, eine Wirklichkeit da draußen, die sich aus dem Radio und aus Büchern speiste. Jetzt im Film gibt es wieder eine, in anderer Weise, aber doch auch eine vorgestellte Wirklichkeit, eine Bilderkonstruktion. Mag sie auch nah an der Realität verlaufen, kann sie doch nie die wahre Geschichte sein, nie die von K. durchlittenen Jahre abbilden.

Man versteht, dass Frau K. mit ihrer Vergangenheit umgehen muss, aber ist es der richtige Weg, sie mit allen zu teilen? Auf diesen Exhibitionismus können nur Kränkungen folgen. Warum sagt ihr das niemand?

Versuch Nummer vier: Und man bekommt das unangenehme Gefühl, dass sich hier Missbrauch und Prostitution süßklebrig umarmen. Es scheint, K. unterliege dem Zwang der Wiederholung: Wieder lässt sie sich von einem verhassten Gegenüber missbrauchen. Was P. nicht mehr fordert, wird nun der Öffentlichkeit in einem unseligen Wiederholungszwang angeboten.

Nummer fünf, ein neuer Versuch: Was hat K. in all den Jahren - neben einer verblüffenden Allgemeinbildung - gelernt?

Sie hat fortgesetzt die Erfahrung von Kontrolle gemacht. P. übte die totale Kontrolle über alle Aspekte ihres Lebens aus, über ihre Ernährung und ihren Hunger, alle ihre Bedürfnisse wurden nach seinem Ermessen erfüllt oder enttäuscht, er war Herr über Tag und Nacht und ihren Aufenthaltsort, über ihre Möglichkeiten und vor allem Begrenzungen, mit der Welt in Verbindung zu treten.

K. hat dabei zu kontrollieren gelernt: Während ihrer Gefangenschaft übte sie Selbstkontrolle aus, bildete sich, trainierte ihren Intellekt, zog sich in eine Art innere Emigration zurück. Dadurch hat sie den Wunsch nach Freiheit erhalten, konnte nach Jahren, als sich endlich die Gelegenheit bot, fliehen.

Eine Art innere Emigration

Heute unternimmt K. den Versuch, Kontrolle auf die Rezeption ihrer Interviews auszuüben, sie will in der Hand behalten, welches Bild transportiert wird. Mit vorgeformten, dem Anschein nach vielfach durchgesprochenen Sätzen malt sie ein Porträt von sich. Eine leise Stimme erwirkt die konzentrierte Zuwendung, der vor die Augen fallende Vorhang aus blondem Haar signalisiert ihren Wunsch nach Privatsphäre. Ach, nähme sie sich doch nur viel davon!

Letzter Versuch: Mit allem, was wir tun oder unterlassen, so heißt es, wollen wir etwas erreichen oder vermeiden. 3096 Tage war K. abgeschieden von der Welt, von Familie und Freunden, von allen weiteren Kontakten. Acht Jahre lang war sie quasi lebendig begraben.

Jetzt ist sie der Gruft entflohen, ist zurück im Reich der Lebenden und will nie mehr vergessen werden. Kameras und Mikrofone multiplizieren heute ihre Existenz. Sie sind aber ein unbrauchbares Mittel, um persönliche Beziehungen aufzubauen.

Und ohne ein Du, ohne Dialog, ohne die Spiegelung im Sein eines anderen gibt es, wie der Philosoph Martin Buber sagt, auch kein Ich.

Auf Wikipedia unter K. finden sich die Kapitel "Herkunft und Leben vor der Entführung" und der Absatz "Entführung". Unter "Weiterer Weg" - steht nichts. Bisher nichts.

Platz für Wünsche

Hier ist noch Platz für Wünsche, die es wohl erst zu entwickeln gilt. Vom Schlankheitswahn ihres Peinigers scheint sie sich zum Glück schon zu verabschieden. Möge sie sich auch verabschieden von der Fortschreibung alter, im neuen Lebensumfeld unbrauchbar gewordener Muster. Möge sie sich auch trennen von Begleitern und Begleiterinnen, die ihr die öffentliche Aufarbeitung ihrer Geschichte anraten.

Möge sie allmählich die Opferrolle hinter sich lassen können und die leisen, klugen Statements in der Öffentlichkeit nicht mehr benötigen.

Stehen Sie von allen roten Sofas in Talkshows auf, grüßen Sie freundlich und gehen Sie Ihrer Wege, Frau Kampusch! (Johanna Beck, Album, DER STANDARD, 2./3.3.2013)