Bild nicht mehr verfügbar.

Szenen der Erniedrigung: "Reibpartien" zeigen sofort nach dem Anschluss das unmenschliche Vorgehen gegen Juden.

Foto: Archiv Martin Pollack

Bild nicht mehr verfügbar.

Sogenannte Reibpartien im zweiten Bezirk in Wien, kurz nach dem Anschluss am 12. März 1938. Erschienen sind solche Aufnahmen in der Nazipresse nicht. Offenbar scheuten die Behörden davor zurück, aller Welt das wahre Gesicht des Nationalsozialismus so offen zu zeigen.

Foto: Archiv Martin Pollack

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Kohlmarkt, schwarz von Menschen: Das Ende Österreichs, von Österreichern bejubelt.

Alle Fotos (Archiv Martin Pollack) werden nach der Erstpublikation im Standard-ALBUM dem Bildarchiv der ÖNB übergeben.

Foto: Archiv Martin Pollack

Die junge Frau hockt auf der Straße, sich mit der rechten Hand abstützend, in der sie eine Bürste hält. Sie ist auffallend hübsch, hat ein apartes, fein geschnittenes Gesicht. Die kauernde Stellung, die Tätigkeit, die gewöhnliche Reibbürste, auf dem Foto deutlich zu erkennen, bilden einen absurd anmutenden Gegensatz zu ihrer eleganten Erscheinung, dem schicken Hütchen, der sorgfältig ondulierten Frisur, der Kostümjacke, den Stöckelschuhen. Die junge Frau kniet nicht, sondern sie hockt, sichtlich unbequem, sie möchte ihre Kleidung nicht schmutzig machen. Sie weiß, dass sie in diesem Moment, in dieser demütigenden Haltung, aufgenommen wird, sie blickt hoch, während der Fotograf auf sie herunterschaut und auf den Auslöser drückt.

Links hinter der Frau sehen wir, angeschnitten, einen Mann, ebenfalls hockend, und rechts einen zweiten, nach unten gebeugt. Von ihm ist nur der Kopf mit Hut im Bild. Was die beiden Männer machen, können wir nicht erkennen, aber wir können es uns zusammenreimen, wenn wir die hübsche Frau und die weitere Bildfolge betrachten. Die Menschen waschen die Straße. Am oberen Rand der Fotografie sind Beine zu sehen, dicht beieinander, Männer und Frauen, wie das Schuhwerk zeigt. Zuschauer, die einen Kordon um die Waschenden bilden.

Ob sie das ordentlich machen

Hinter der Frau ist ein weiterer Mann im Bild, eigentlich nur eine Hand und sein rechtes Bein, in Breeches-Hosen und Stiefeln. Es wirkt bedrohlich, so wie er hinter ihr steht. Auf einem anderen Foto sehen wir ihn ganz, in voller Justierung: ein hagerer Mann, vielleicht um die dreißig, Geheimratsecken, scharfes Profil, SA-Uniform, am linken Arm die " Kampfbinde" mit dem Hakenkreuz. Die Hände in den Taschen, schaut er auf die Straße, während die knienden Männer den Asphalt schrubben, die Frau ist nicht im Bild. Der SA-Mann scheint zu kontrollieren, ob sie das ordentlich machen. Im Hintergrund, zurückgehalten von Männern, die eine Absperrung bilden, eine dichtgedrängte Menge. Schaulustige. Gaffer. Einige sind an einer Fassade hochgeklettert, um nichts zu versäumen, was es da zu sehen gibt.

Straßenwaschende Juden in Wien. Im März 1938, kurz nach dem "Anschluss". In diesen Tagen kommt es in Wien und anderen österreichischen Städten zu beispiellosen Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger, diese werden von siegestrunkenen Nazis gezwungen, zum Gaudium der Zuschauer Parolen des Ständestaates von den Straßen zu waschen. Die Parolen sollten vor der Volksbefragung am 13. März Stimmung für ein unabhängiges Österreich machen. Doch die Befragung muss auf Drängen Hitlers abgesagt werden. Am Morgen des 12. März überschreiten deutsche Truppen die Grenzen.

Die antijüdischen Exzesse finden vor zahlreichem Publikum statt. Der Volksmund prägt für die Szenen der Erniedrigung den verharmlosenden Ausdruck "Reibpartien", weil die Juden die Straßen mit Reibbürsten säubern müssen. Auf zwei Bildern kann man deutlich erkennen, welche Parole sie wegwaschen: ÖSTERREICH.

Wo haben sich die hier gezeigten Aktionen abgespielt? Mithilfe von Hausfassaden und Geschäftsschildern lassen sich die Örtlichkeiten lokalisieren. Wir sehen Aufnahmen von zwei "Reibpartien", beide im zweiten Bezirk, nicht weit voneinander entfernt. Die Bilder mit der jungen Frau zeigen die Novaragasse, Ecke Weintraubengasse, die meisten Häuser sind noch heute zu identifizieren. Im Eckhaus Novaragasse 41 befand sich die Milchhandlung von Sophie Richter. "Wiener Molkerei" und: " Butter, Topfen" können wir auf weißen Tafeln entziffern. Im selben Haus war der Kranken- und Unterstützungsverein der Brodyer untergebracht, eine Hilfsorganisation von aus Brody stammenden Juden. Schräg vis-à-vis, Novaragasse 40, war das Vereinsbethaus Beth Jakob Josef.

Auf einem anderen Bild, es zeigt vier straßenwaschende Männer mit einem weißen Emailkübel, können wir im Hintergrund ein Geschäftsschild ausmachen: Anton Koller. Nach Details der Fassade lässt sich eruieren, dass das Schild dem Kleidermacher Anton Koller in der Mühlfeldgasse 7, Ecke Fugbachgasse, gehörte. Die Szenerie ist ähnlich. Gut gekleidete Herren knien, umringt von einer lachenden Menge, auf der Straße und putzen.

Wann die hier gezeigten Aufnahmen entstanden sind, können wir nicht mit Gewissheit sagen, vielleicht am 14. März, aber das ist belanglos. Auch die Identität des Fotografen ist unbekannt. Es gibt allerdings einen Hinweis. Die letzten zwei Aufnahmen des Films mit den waschenden Juden zeigen zwei junge Männer - einer ist abgebildet - auf einem Motorrad. Einmal knipst der eine, dann der andere. Vermutlich hat der Fotograf den Film vor dem Wechseln "ausgeschossen". Wer von den beiden fotografiert hat, bleibt ungeklärt. Das Motorrad steht am Graben im ersten Bezirk, im Hintergrund ist eine Reklame der Österreichischen Lichtbildstelle zu sehen, die sich im Gebäude Naglergasse 1 (Graben 20) befand. Die Lichtbildstelle wurde von den Behörden des Ständestaates zur nationalen Bildagentur ausgebaut, die auch Fotografen beschäftigt. Nach dem "Anschluss" wurde sie sicher von den Nazis sofort unter ihre Kontrolle gebracht. Sie wussten, wie wichtig Propaganda war. Es ist denkbar, dass der Fotograf die Bilder dort abgeben wollte.

Neben den erniedrigten Juden hat er auch andere Szenen aus jenen Tagen fotografiert, etwa den Einzug Adolf Hitlers, der am Montag, dem 14. März, in Wien eintrifft. Der Fotograf erwartet die Kolonne auf der äußeren Mariahilfer Straße, auf der Höhe des Schwendermarktes. Ein paar Bilder zeigen die Innenstadt im Taumel der Begeisterung. Der Kohlmarkt, schwarz von Menschen, über ihnen eine Hakenkreuzfahne, dahinter die Hofburg. Das Ende Österreichs, von Österreichern bejubelt.

War der Fotograf ein überzeugter Nazi? Anzunehmen, sicher ist es nicht. Die Bilder stellen auch die Frage nach der Verantwortung des Fotografen. Ergreift er Partei, wenn er solche Aufnahmen macht? Ins Auge springt, wie er sich bei den Waschszenen auf die junge Frau konzentriert. Er fotografiert sie hockend, stehend, mit Reißbürste, einmal rutscht ihr bei der ungewohnten Betätigung der Rock hoch und entblößt das Knie. Sofort drückt er auf den Auslöser. Sie kann sich nicht wehren. Diese Konstellation, die wehrlose Frau, den gierigen Blicken des jungen Mannes ausgeliefert, hat etwas Lüsternes, zugleich Bedrohliches an sich. Und es fragt sich auch, ob jemand die kleinen Nazis zu diesen Orgien der Gemeinheit inspirierte? Oder heckten sie die selber aus? Spontan?

Erschienen sind die Aufnahmen in der Nazipresse nicht, auch nicht ähnliche von anderen Fotografen. Offenbar scheuten die Behörden davor zurück, aller Welt das wahre Gesicht des Nationalsozialismus so offen zu zeigen. Die sadistischen Quälereien, denen die Juden vom ersten Tag an ausgesetzt wurden. Zur Belustigung der Nachbarn, die in vielen Fällen selber zu Tätern wurden. Die Grenzen zwischen Gaffern und Tätern verschwimmen. Man kann davon ausgehen, dass die Schaulustigen, die wir hier sehen, in der Novaragasse, der Weintraubengasse, der Mühlfeldgasse zu Hause waren. So wie die Juden. Die Zuschauer sind Nachbarn, sie wohnen Tür an Tür mit den Opfern, sie sind ihnen oft begegnet, auf der Straße, im Stiegenhaus.

Wenn die junge Frau aufblickt, schaut sie in bekannte Gesichter, ein paar kennt sie beim Namen, hat sie bisher vielleicht für gute Bekannte gehalten. Jetzt lachen sie, weiden sich an ihrer Erniedrigung. Auf einem Foto sehen wir einen Mann, der vor ihr auf den Boden deutet, als wolle er zeigen, hier müsse sie noch gründlicher waschen. Die Frau trägt einen dunklen Mantel - wo hat sie den auf dem anderen Bild gelassen? Hat sie ihn irgendwo abgelegt? Das Hütchen hat sie abgenommen, sie drückt es, mit einer Handtasche, mit der Linken an die Brust. Als man sie holte, wusste sie nicht, was sie erwarten würde. Sie und ihre Leidensgenossen konnten sich nicht vorstellen, zu welcher Niedertracht die Nachbarn fähig sein würden.

Die Niedertracht der Nachbarn

Die Zuschauer sind gewöhnliche Leute. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer hat in seinen Erinnerungen beschrieben, was er in Wien zur Zeit des " Anschlusses" erlebte. Da brach die Hölle los. "Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen ..."

Solche Geschöpfe sehen wir auf diesen Bildern nicht. Diese Menschen sind keine Lemuren, kein Abschaum, kein entfesselter Mob. Sie sind normale Bürger. Ordentlich gekleidet, stehen sie fast gesittet hinter der Absperrung, gebildet vermutlich von Freiwilligen. Anständige Leute, wie man sagt, die einem festen Beruf nachgehen und auf Recht und Ordnung schauen. Das macht das Ganze noch beklemmender.

Auffallend sind die vielen Kinder unter den Schaulustigen, in der ersten Reihe, damit ihnen nichts entgeht. Auf einem Bild steht eine Frau in einem bis zu den Knöcheln reichenden Mantel, daneben ein Mann mit Hakenkreuzbinde. Sie hat einen kleinen Buben an der Hand. Neben ihr ein größerer Bub, vielleicht vierzehn, der ihr ähnlich schaut. Vermutlich ihr Sohn. An seiner Seite wieder eine Frau, auch sie hat ein Kind dabei, ein Mädchen. Die Frauen haben die Kinder mitgenommen, sie sollen sehen, wie Menschen, vor denen sie sich wenige Tage zuvor noch artig verneigten, drangsaliert und herabgewürdigt werden. Weil sie Juden sind. Ein Schauspiel, das die Erwachsenen den Kindern nicht vorenthalten wollen. Was ist schon dabei?

Die Umstehenden schmunzeln, einige lachen, ein paar heben die Hand zum Hitlergruß. Ein stämmiger Bub im Trachtenjanker bohrt ungeniert mit dem kleinen Finger in der Nase. Vor ihm ein Kleiner, der sich eng an ihn drückt, vielleicht der jüngere Bruder. Das sind keine Lemuren, sondern gewöhnliche Menschen. Biedere Wiener. Wenn man die gaffende Menge betrachtet, fragt man sich, ob jemand nach 1945 diese Szene erwähnt hat. Vergessen konnte man sie wohl nicht so leicht. Oder haben alle geschwiegen, haben gesagt: Wir haben nichts gewusst, wir haben nichts gesehen, wir waren nicht dabei.

Gewöhnliche Leute

Der Zufall fügt es, dass in der Weintraubengasse, wo sich eine Waschszene abspielt (Ecke Novaragasse), der Schriftsteller Peter Herz wohnte, bekannt als Librettist und Verfasser zahlreicher Wienerlieder, im Haus Weintraubengasse 9. Von Herz stammt der Text von Schön ist so ein Ringelspiel, das Hermann Leopoldi berühmt gemacht hat. Die Anfangszeilen des Liedes geben auf beklemmende Weise wieder, was die Schaulustigen damals vermutlich empfunden haben: "Des is a Hetz und kost net viel, damit auch der kleine Mann sich eine Freude leisten kann ..."

Auch das waren die Reibpartien, die öffentliche Demütigung der Juden, die im März 1938 gezwungen wurden, in ihrem besten Gewand die Straßen zu waschen. Damit hat alles angefangen. Von einer Hetz spricht auch der Herr Karl bei Helmut Qualtinger, wenn er sich erinnert, wie er den Herrn Tennenbaum geführt hat, damit er die Anti-Nazi-Parolen vom Trottoir wischt: "Und der Hausmaster hat zua'gschaut und hat g'lacht ... Er war immer bei aner Hetz dabei." (Martin Pollack/DER STANDARD, 2./3. 3. 2013)