
Sigrid Pilz: Neue Haftung hilft Ärzten und Patienten.
Wenn sich Patienten mit einem vermuteten Behandlungsfehler, der einen Gesundheitsschaden verursacht hat, an die Wiener Patientenanwältin wenden, höre ich oft die resignative Feststellung: "Ich würde ja klagen, doch das Risiko zu verlieren, kann ich mir fi nanziell nicht leisten." Dem ist schwer zu widersprechen: Die Beweislast liegt beim Geschädigten, komplexe Vorgänge wie Operationen sind für Laien kaum zu beurteilen, und zumeist kann man dank der Narkose vor dem Richter nicht erzählen, was vor sich gegangen ist. Sachverständigengutachten, die hier helfen, sind teuer, und wer verliert, bezahlt auch noch die Prozesskosten. Damit der Pa tient doch zu einer Entschädigung kommt, kann er aber die zuständige Patientenanwaltschaft beauftragen, mit den Versicherungen des Spitals oder des niedergelassenen Arztes Verhandlungen zu einer außergerichtlichen Schadensabgeltung zu führen. Die Patientenanwaltschaft ist unabhängig und für den Patienten kostenfrei.
Oft aber liegt kein Behandlungsfehler, sondern eine Komplikation vor, wie es im Fall der Patientin, die durch eine Blutkonserve mit HIV infiziert wurde, zu sein scheint. Wer hilft in diesem Fall? Da sie in einem öffentlichen Spital behandelt worden ist, kann sie sich über die Patientenanwaltschaft an den Wiener Patientenentschädigungsfonds wenden. Seltene, aber schwere Komplikationen können bis zu einer Höhe von 100.000 Euro entschädigt werden. Hätte man ihr die Konserve aber als Privatpatientin in einem Wiener Belegspital verabreicht, wäre sie beim Fonds nicht antragsberechtigt. Patienten in Ordinationen oder therapeutischen Einrichtungen gehen ebenfalls leer aus, wenn sich ein Behandlungsfehler nicht oder schwer beweisen lässt beziehungsweise sich eine schicksalhafte schwere Komplikation ereignet hat. Das ist fatal, denn heutzutage werden viele minimalinvasive Eingriffe wie die Koloskopie unter Narkose in Ordinationen durchgeführt, ohne dass eventuelle Komplikationen entschädigt werden können.
Kritikwürdig ist auch, dass nur die Patienten selbst die Länder-Fonds finanzieren, und zwar durch ihre Beiträge beim Spitalsaufenthalt. Ärzte, Spitäler, Versicherungen, Pharmaindustrie und Medizinprodukthersteller tragen nicht bei.
Die Patientenanwälte fordern daher schon seit Jahren eine gerechtere Dotierung, Ausweitung der Zuständigkeit auf alle Gesundheitsdienstleister sowie Vereinheitlichung bei den Strukturen der Entschädigungskommissionen. Ma ximalentschädigungen variieren außerdem von 22.000 bis 100.000 Euro. Vordenker des Medizinrechts wie Univ.-Prof. Dr. Heinz Barta aus Innsbruck gehen noch einen wichtigen Schritt weiter. Mit dem Medizinhaftungsgesetz schlägt er ein Modell vor, das meines Erachtens die Patientenrechte entscheidend stärken und der Komplexität und Gefahrengeneigtheit medizinischen Handelns wesentlich besser Rechnung tragen würde. Eine Solidarhaftung, vergleichbar der Unfallversicherung, soll verschuldensunabhängig Medizinschäden abgelten. Mitglieder dieser Risikogemeinschaft wären alle Gesundheitsdienstleister, die Patienten, die einschlägige Industrie und die Versicherungen. Der Anspruch des Geschädigten würde sich gegen diese Gemeinschaft und nicht länger ge gen einzelne Ärzte oder Spitäler wenden. Der Vorteil für alle Beteiligten liegt auf der Hand: Der Druck zur Defensivmedizin, die nicht zum Nutzen der Patienten und ein entscheidender Kostentreiber ist, würde von den Schultern der Ärzte genommen. Der Patient wäre nicht gezwungen, durch eine zivilrechtliche Klage, bei der ihm die Beweislast aufgebürdet ist, einen Behandlungsfehler nachzuweisen.
Man muss nicht fürchten, dass dadurch weniger Sorgfalt von der Ärzteschaft eingefordert würde: Bei grober Fahrlässigkeit - rund zehn Prozent der Fälle - würde gegen den Arzt, beziehungsweise das Spital regressiert. Der Gesetzesentwurf verlangt auch Maßnahmen zur Prävention und Qualitätssicherung. Auf Basis transparenter Berichte über die Ergebnisse könnten die Patientenanwälte die oft gestellte Frage endlich beantworten: "Kennen Sie einen guten Arzt oder ein gutes Spital für meinen Fall?" (Sigrid Pilz, DER STANDARD, 4.3.2013)