Nadelbäume will er aus seinem Revier vertreiben, Laubbaum-Urwälder möchte er nach Mitteleuropa zurückholen. Förster Peter Wohlleben setzt in seinem Revier in Rheinland-Pfalz auf die Kombination von Ökologie und Ökonomie. Maschinen haben nur noch begrenzten Zugang, stattdessen sind Hand- und Pferdearbeit angesagt. Entgegen Widerständen von anderen Förstern und Jägern setzte er durch, dass alte Bäume unter Schutz gestellt wurden.
Obwohl der Holzabbau durch die naturnahen Methoden teurer wurde, erwirtschaftet Wohlleben jährlich 300.000 Euro mit seinem Wald. Nun hat er seine Erfahrungen in dem Buch "Der Wald – Ein Nachruf" zusammengefasst. Im Interview erklärt Wohlleben, dass Rehe im Winter täglich bis zu 1.500 Laubbäume zerstören, Europa nicht mit dem Finger auf Südamerika zeigen soll und die Hälfte aller Nadelbäume von Borkenkäfern und Stürmen geerntet werden.
derStandard.at: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie sich dafür schämen, was Sie dem Wald in Ihrer Zeit als junger Förster angetan haben. Konnten Sie das wieder gutmachen?
Wohlleben: Ich denke schon, wenn ich die gesamte Entwicklung betrachte. Natürlich hat es damals irreversible Schäden gegeben, wie das in der Forstwirtschaft grundsätzlich passiert. Ich habe Sachen gemacht, die heute nicht mehr zu verantworten sind: Zum Beispiel habe ich einen dicken, alten Baum, der abgestorben und nichts mehr wert war, als Brennholz weggegeben, statt ihn der Natur zu überlassen. Oder Vollerntemaschinen eingesetzt, wodurch die Böden komplett kaputt gemacht wurden. In meinem jetzigen Revier ist Forstwirtschaft noch immer kein Umweltschutz, weil weiterhin Eingriffe geschehen. Wir haben aber mittlerweile 15 Prozent der Revierfläche stillgelegt, das sind jetzt Naturschutzgebiete.
derStandard.at: Was waren die wichtigsten Dinge, die Sie an Ihrer Arbeit geändert haben?
Wohlleben: Der Verzicht auf Kahlschläge und Chemie. Es werden immer noch sehr viele Insektizide eingesetzt, die hammerhart und drei Monate vollaktiv sind. Setzt sich ein Schmetterling auf einen behandelten Baum, dann fällt er tot runter. Außerdem streuen wir keinen Kalk mehr auf den Boden, um den Sauren Regen zu kompensieren. Die Folgen der Kalkung sind noch schlimmer als der Saure Regen selbst.
Wir setzen keine Vollerntemaschinen mehr ein, sondern lassen die Waldarbeiten zu einem Großteil von Arbeitern und Rückepferden erledigen. Erst wenn die Pferde das Holz vorgezogen haben, kommen Maschinen zum Einsatz, um das Holz abzutransportieren. Zwischen den Bäumen wird nicht mehr gefahren. Dadurch sind die Holzerntekosten doppelt so hoch wie vorher. Aber sie stabilisieren den Boden und dadurch investieren wir in die Zukunft.
derStandard.at: Kahlschläge im Wald sind mittlerweile verboten. Wie ist es möglich, dass diese immer noch passieren?
Wohlleben: Der Trick ist: Wenn Sie alle Bäume im Alter von 150 bis 200 Jahre fällen und darunter noch kniehohe junge Bäume stehen, dann ist das kein Kahlschlag. Ökologisch gesehen stimmt das natürlich nicht, weil in so einen kniehohen Baum kein Specht eine Höhle zimmern kann – aber juristisch gesehen ist es legal. Nach solch einem Kahlschlag braucht der Boden allerdings 500 Jahre um sich zu erholen.
derStandard.at: Welche Auswirkungen hat das auf die kleinen Bäume, wenn die hohen Riesen um sie herum verschwinden?
Wohlleben: Sie wachsen dann wie Mastschweine und werden schnell dick. Normalerweise herrscht in einem Urwald ständiges Dämmerlicht und die kleinen Bäume brauchen teilweise 100 bis 200 Jahre, um in die Höhe zu wachsen. Sie hungern sich quasi nach oben und das ist auch so gewollt, weil sie dann ganz dichtes, elastisches Holz bekommen und bei einer Beschädigung nicht so schnell faulen. Wenn sie in ihrer Jugend ganz schnell wachsen, indem sie zu viel Licht bekommen, verausgaben sie sich. Das Holz wird qualitativ sehr schlecht und kann gleichzeitig nicht alt werden. In der Forstwirtschaft spielt das keine große Rolle, weil man sie nicht alt werden lassen will.
derStandard.at: Nadelbäume sind in Mitteleuropa nicht heimisch. Welche Probleme verursachen sie?
Wohlleben: Dieselben Probleme wie in Brasilien, wenn der Regenwald abgeholzt und eine Eukalyptusplantage hingepflanzt wird. Mit der Fichte importieren wir zum Beispiel ein Taiga-Ökosystem. Das ist fremd und damit können die heimischen Tierarten nichts anfangen. Im Boden gibt es alleine 670 Arten Hornmilben. Diese Arten stehen wie Bodenplankton am Anfang der Nahrungskette und sind auf Laubbäume angewiesen. Wenn man im Wald eine Fichte pflanzt, dann verschwinden diese Tierchen.
derStandard.at: Leiden auch die Nadelbäume selbst?
Wohlleben: Ja, ihnen ist es in tieferen Lagen viel zu warm und es gibt eine viel zu lange Vegetationsperiode. Dadurch haben die Bäume ständig Durst. Kurz vor dem Verdursten werden sie so krank, dass der Borkenkäfer leichtes Spiel hat. Einen gesunden Baum kann der Käfer gar nicht angreifen.
Nadelbäume sind auch nicht resistent gegen starke Stürme, denn von Natur aus wachsen sie meist nur zehn bis fünfzehn Meter hoch und das in 200 Jahren. Bei uns werden sie aber bis zu 50 Meter hoch. Zudem behalten die meisten Gattungen ihre Nadeln – wenn da ein Sturm draufbläst, entsteht eine Hebelwirkung und sie knicken um. Weil aber Sturmschäden als Naturkatastrophe gelten, kann man den Steuerzahler zu Hilfe rufen und der bezahlt dann die Wiederaufforstung. Natürlich wieder mit Nadelbäumen. Rund 50 Prozent der Nadelbäume werden durch Stürme oder Borkenkäfer geerntet.
derStandard.at: Wo findet man in Mitteleuropa noch echte Natur?
Wohlleben: Urwälder gibt es nur mehr auf kleinen Flächen, etwa auf Steilstlagen, wo kein Mensch stehen kann. 99,9 Prozent der Fläche in Mitteleuropa ist keine echte Natur mehr, weil der Mensch in den vergangenen 2000 Jahren überall mitgemischt hat – sei es durch Abholzung, Einführung neuer Baumarten oder Bodenveränderung durch Landwirtschaft. Jeder landwirtschaftliche Boden ist für die nächsten Jahrtausende schwer gestört.
derStandard.at: Wie lässt sich der Schaden an den Böden messen?
Wohlleben: Wir ließen bei uns im Revier geologische Gutachten über die vorhandenen Bodenschichten durchführen. Dadurch lässt sich sogar erkennen, ob vor 300 Jahren Schafe darüber gelaufen sind. Selbst diese Schäden regenerieren sich nicht mehr. Wenn dann eine 50 Tonnen Maschine über den Boden rollt, hat das eine dementsprechende Auswirkung. Wir haben bei uns aber auch Böden entdeckt, die seit Jahrtausenden von Wald bedeckt sind. Diese sehr alten Buchenwälder waren in den trockenen Sommern die vitalsten. Denen hat überhaupt nichts gefehlt. Nebenan haben die Buchen bereits im August ihre Blätter abgeworfen, weil sie nicht mehr konnten.
derStandard.at: Wie findet man solche Urwaldböden?
Wohlleben: Zum Beispiel mithilfe alter Karten. Darauf sind, zumindest bei uns im Rheinland, alte Buchenbestände aufgezeichnet. Diese Altstandorte sollten zuerst untersucht und sofort unter Schutz gestellt werden. Dort existiert meist noch ein Großteil der ursprünglichen Bodenartenvielfalt. Die größte Artenvielfalt Mitteleuropas findet sich im Boden, es gibt mehr Arten von Hornmilben als Vogelarten.
derStandard.at: Sie kritisieren auch die Wilddichte in Mitteleuropa: Normal wäre ein Reh pro Quadratkilometer und wir liegen bei 50 Rehen. Wodurch kommt diese Dichte zu Stande?
Wohlleben: Zum einen durch die Abwesenheit von Raubtieren wie Wölfen und Bären. Zum anderen durch die Anfütterung der Wildtiere. Es gibt eine Statistik des ökologischen Jagdverbands, dass pro Kilogramm Wildschweinfleisch zwölf Kilo Körnermais in den Wald gefahren werden. Ein Schwein im Stall würde nur sechs Kilo benötigen. Beim Rotwild ist es teilweise noch offensichtlicher, da wird das Wild in Gatter getrieben und gefüttert. Das zeigt, dass die Wildbestände viel zu hoch für den Lebensraum sind.
derStandard.at: Was sind die Folgen davon?
Wohlleben: Die Wilddichten orientieren sich immer am Winter. Im Sommer können viele Tiere auf engem Raum leben, weil es genug Nahrung gibt. Im Winter würden allerdings nur noch ganz wenige Exemplare durchkommen. Die Tiere fressen dann alles, was durch die Schneedecke wächst und das sind meistens die kleinen Laubbäume. Ein Reh kann so pro Tag zwischen 1.000 und 1.500 kleine Bäumchen kaputt machen.
derStandard.at: Sie fordern mehr Abschüsse von Wild. Wie wollen Sie das erreichen?
Wohlleben: Man müsste grundsätzlichen den körperlichen Nachweis einführen – das heißt, dass Jäger jedes Stück herzeigen müssen, das sie geschossen haben. In Bayern wurde seit dessen Einführung das offiziell geschossene Wild weniger und trotzdem ließ auch der Verbiss im Wald nach. Das bedeutet, dass zuvor sehr viele Abschüsse gemeldet wurden, die gar nicht getätigt worden sind.
derStandard.at: In Ihrem Buch kritisieren Sie auch, dass Europa mit dem Finger auf die Abholzung der Regenwälder in Südamerika zeigt, wo doch hier das gleiche passiert.
Wohlleben: Auch bei uns werden schützenswerte Wälder nicht unter Schutz gestellt. Die Forstverwaltung meint, dass wir uns diesen Rohstoffverlust nicht erlauben können. Und dass das Holz, das hier nicht abgebaut werden kann, aus den Tropen importiert werden muss. Das Argument ist unmöglich. Man kann nicht sagen, dass andere dafür bezahlen müssen, wenn wir zu viel verbrauchen.
Mein Traum wäre, dass wir deutlich weniger Holz verbrauchen und die freiwerdenden Kapazitäten im Wald unter Schutz stellen. Ich bin nicht gegen die Holznutzung. Aber wir sollten uns doch einen vernünftigen Prozentsatz an Schutzgebieten erlauben können und in den anderen ökologisch wirtschaften. Das würde dort den Holzertrag steigern und man könnte international wieder auf Augenhöhe mitdiskutieren, weil man selbst etwas geändert hat.
derStandard.at: Was fordern Sie von Ihren Försterkollegen?
Wohlleben: Ich habe einen einzigen Wunsch: Liebe zum Wald, weil die ganz eindeutig fehlt. Was man liebt, das würde man nie so ruppig behandeln. (Bianca Blei, derStandard.at, 4.3.2013)