Kenia/Flüchtlingslager Dadaab: Frauen auf der Flucht sind von sexueller Gewalt besonders bedroht.

Foto: CARE/Evelyn Hockstein, 2011

"Gender matters" ist das Motto des zweiten Humanitären Kongresses, der kommenden Freitag an der Universität Wien stattfindet. Und dabei geht es keineswegs nur um die Rolle von Frauen und Mädchen in der Katastrophenhilfe, auch wenn das Datum der Veranstaltung – 8. März, Internationaler Frauentag – den Verdacht nahelegt: Effiziente Not- bzw. Katastrophenhilfe muss den Bedürfnissen und Fähigkeiten von Frauen, Männern, Mädchen und Jungen gleichermaßen Rechnung tragen.

Durchschnittlich 250 Millionen Menschen sind von ca. 400 Naturkatastrophen betroffen – pro Jahr, Tendenz steigend. Dazu kamen zahlreiche bewaffnete Konflikte, die Millionen Menschen in die Flucht trieben. In vielen Fällen liegen abgesehen von Registrierungszahlen in Flüchtlingslagern oder Krankenhäusern kaum verlässliche Daten vor, doch alle HelferInnen wissen aus der praktischen Erfahrung am Einsatzort -  Frauen, Kinder und alte Menschen sind von den Auswirkungen der Krisen überproportional betroffen.

Tsunami – zwei Drittel der Todesopfer weiblich

Es gibt nur wenige Studien darüber, wie unterschiedlich Frauen und Männer von Katastrophen betroffen sind. Eine davon wurde 2004 nach dem Tsunami in Südasien erstellt – demnach waren zwei Drittel der Todesopfer weiblich. Viele Männer überlebten nicht nur aufgrund ihrer größeren körperlichen Kraft und besseren Schwimmkünste, sondern dank der gesellschaftlich üblichen Rollenaufteilung: Zum Zeitpunkt der Katastrophe arbeiteten sie z.B. auf dem Feld oder auf dem Markt, während Frauen und Kinder von der riesigen Flutwelle zu Hause überrascht wurden. In besonderer Lebensgefahr waren unter neun-jährige Kinder, über 60-Jährige und Frauen bzw. Mädchen, die jüngere Kinder tragen mussten.

Doch nicht nur in der Akutphase von Katastrophen werden Gender-Aspekte deutlich und müssen von HelferInnen berücksichtigt werden. Aufgrund der hohen Anzahl weiblicher Todesopfer waren zahlreiche Väter nach dem Tsunami plötzlich mit der Verantwortung für ihre Familien bzw. den Haushalt allein. Viele Mädchen wurden zu frühzeitigen Eheschließungen gedrängt, die zu frühen Schwangerschaften und gesundheitlichen Problemen führten.

Auch im Zuge von Hungerkatastrophen wie der Sahelkrise im Sommer 2012 wurde eine verstärkte Tendenz zur Verheiratung von minderjährigen Mädchen registriert. So verheirateten z.B. in der Maradi-Region im Niger viele Familien ihre Töchter angesichts der schwierigen Ernährungslage noch früher als traditionell üblich, um weniger Familienmitglieder ernähren zu müssen.

Sexuelle Gewalt

Ein weiteres Problem, das im Zusammenhang mit Katastrophen bzw. Konflikten häufig auftritt und auf das HelferInnen kompetent, sensibel  und dem kulturellen Kontext entsprechend reagieren müssen, ist sexuelle Gewalt. Nicht nur, dass diese zu schwersten Verletzungen, der Übertragung von Infektionen, Traumata oder sogar dem Tod führen kann - in vielen Gesellschaften sind Erfahrungen sexueller Gewalt ein Tabuthema, über das aus Angst vor sozialer Stigmatisierung nicht offen gesprochen wird. Umso wichtiger ist es, im humanitären Kontext für Strukturen und Prozesse zu sorgen, die für die Betroffenen niederschwellig Hilfe und Schutz gewährleisten und weitere Gewalt verhindern.

So kümmern sich im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, das über 400.000 Menschen Obdach gibt, eigens von Hilfsorganisationen geschulte Community-Worker um Neuankömmlinge, identifizieren Überlebende sexueller Gewalt und vermitteln ihnen bei Bedarf nicht nur medizinische, sondern auch psychosoziale Hilfe, die sehr gern angenommen wird. Zudem wird großer Wert auf Gewaltprävention gelegt. Alleinstehende Frauen und ihre Familien werden in besonders sicheren Lagerbereichen untergebracht; Taschenlampen werden verteilt, um den nächtlichen Weg zu den Sanitäranlagen sicherer zu machen und Gesprächsgruppen organisiert, um traditionelle Geschlechterrollen bzw. Gewaltmuster zu hinterfragen und zu verändern. Diesbezüglich sind Männer eine wichtige Zielgruppe, die über Gruppenaktivitäten lernen, männliche Stärke nicht über Gewaltbereitschaft zu definieren, sondern über einen persönlichen Beitrag zum Schutz der Gemeinschaft, z.B. durch die Mitarbeit in "Anti-Vergewaltigung-Komitees".

Zugang zu Verhütungsmitteln

Leider ist noch immer nicht selbstverständlich, dass der Faktor Gender bei sämtlichen Hilfsmaßnahmen systematisch mitberücksichtigt wird. Insbesondere dem Thema Verhütung bzw. sexuelle und reproduktive Gesundheit wurde in der Vergangenheit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, da sie aus Sicht vieler Hilfsorganisationen bzw. Donoren nicht zu den lebensrettenden Interventionen zählten, denen im Akutfall Priorität zukommen sollte. Doch gerade in Extremsituationen, wenn Familien auseinander gerissen wurden, Menschen ihre gesamte Existenz verloren haben, Gesundheitseinrichtungen zusammengebrochen sind und die Gewalt eskaliert – sehr oft die sexuelle Gewalt – können solche Interventionen lebensrettend sein bzw. für Mutter und Kind tödlich verlaufende Abtreibungen verhindern helfen.

Auch in chronischen Krisensituationen hat sich ein Mix aus Aufklärung und medizinischer Versorgung bewährt: Im Tschad haben nur 1,7 Prozent der Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau liegt bei fünf Kindern, wobei 20 Prozent aller Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr sterben, zumeist an den Folgen von Unterernährung. Zahlreiche Frauen treiben unter lebensgefährlichen Umständen ab, die Mütter- und Kindersterblichkeitsraten sind dramatisch hoch. In Zeiten von Hungerkrisen wie im Sommer 2012 verschärft sich die Situation noch weiter. Hilfsorganisationen sorgten für sauberes Trinkwasser, therapeutische Spezialnahrung und standen Frauen, die nach einer Abtreibung Hilfe suchten, mit lebensrettender medizinischer Versorgung zur Seite. Gleichzeitig erhielten die Frauen Aufklärung und Zugang zu Verhütungsmethoden.  Mythen, denen zufolge Familienplanung zu Unfruchtbarkeit oder Impotenz führt, wurden ebenso hinterfragt wie traditionelle Geschlechterrollen, nach denen Frauen nur verhüten dürfen, wenn ihre Ehemänner dazu die Erlaubnis geben. Mithilfe dieser Maßnahmen konnte die Anzahl jener, die in Zukunft nicht mehr auf Abtreibung, sondern auf Verhütungsmittel setzen, auf das Achtfache gesteigert werden. Es ist zu hoffen, dass solche innovativen Projektkomponenten bald nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sind. (Angelika Gerstacker, dieStandard.at, 6.3.2013)