Gabriele Göttle: Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag. Reportagen.
Kunstmann-Verlag, München 2012

Foto: Kunstmann-Verlag

"...ich bin ein Rendez-Vous von Erfahrungen". Diesen hellsichtigen Satz sprach Nietsche, etwa zwei Wochen bevor er in der Dunkelheit seiner Geisteserkrankung als Philosoph verschwand. Er kann als Leitfaden für die Reportagen von Gabriele Goettle gelten: 26 sehr unterschiedliche Biografien, Tätigkeitsfelder, Ortschaften, Sinnstiftungen, Lebensalter und Lebenszugewandtheiten hat sie in "Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag" zusammengetragen.  

Fremd- vs. Selbstbeauftragung

Wer den Medien seit einigen Jahren sorgfältiger zuhört, findet dort nicht wenige An- und Aufforderungen an Frauen, sich zu qualifizieren, über "Vereinbarkeiten" nachzudenken, großartige Karrieremöglichkeiten für sich vorzusehen mit dem Versprechen auf Geld, Liebe und Zuversicht. "Sei brav und emanzipiere dich", könnte die Fremdbeauftragung heißen. Der Gegenentwurf ist eine Selbstbeauftragung, die nicht selten einer Reise gleicht: es werden Städte und Ausbildungen gewechselt, Erfahrungen gesammelt und ausgewertet, die gelebten Puzzlestücke aneinandergerückt, bis der selbst erarbeitete und gesuchte Sinn erkennbar und somit verfolgbar wird.

Goettle beschreibt vor jeder Geschichte den Weg zum Interview-Ort, die Räume, wie das Leben und die Arbeit darin vorstellbar ist und den Gang, die Gesten, die Mimik des Gegenübers zu Beginn. Die Leserin tritt also mit ein in die Situation und ist bereit "zuzuhören". Die Orte sind die Privatwohnung, das wissenschaftliche Institut, der Trainingsraum, der "Umsonst-Laden" im Kietz, ein Tätowierstudio, das Bestattungsinstitut, der Kiosk und so weiter – Umfelder, die von den Frauen sowohl mitgestaltet werden und auch selbst von ihnen beeinflusst sind.

Vielfaches Wissen

Es gibt kein Interview, das man als Leserin verlässt, ohne um ein vielfaches Wissen reicher zu sein. Die Medizinhistorikerin entwickelt eine Geschichte der Seuchen, die die jährlich stattfindenden Alarmierungen absurd erscheinen lässt. Wie verästelt die sozialstaatlichen Bevormundungen in den letzten zehn Jahren gegenüber Bedürftigen wurden und was das für die Frau in der "Arbeitsagentur" bedeutet, ist dem strategischen Bericht der Beraterin zu entnehmen. Zorn entsteht da bei der Leserin aber auch Anerkennung für ihre Arbeit, die versucht nicht nur die Gesetze "anzuwenden", sondern sie den vor ihr sitzenden "KundInnen" anzupassen.

Die Bestatterin entfaltet viele Argumente gegen die Urnenbestattung und der damit zusammenhängenden  Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit von Beziehungen und bietet den Trauernden an, die Särge (oder Urnen) vor der Bestattung gemeinsam zu bemalen. Wieviele Gründe es für eine Tätowierung für Zeichensuchende gibt und wie wandelbar und auch Moden unterworfen sie sind und dennoch ernst zu nehmen kann man vor dem Interview mit der Bodybuilderin, der der eigene Körper ein gesellschaftliches und privates Zeichen ist, nachlesen. Die Hausmeisterin erlernte viele Handwerke mit all den Zertifikaten, sie lebte auf dem Land und in Großstätten, um zu ihrer eigenen Überraschung in dem Berliner feministischen Projekt "Schokofabrik" die Position der Hausmeisterin als alle ihre Fähigkeiten und sozialen Bedürfnisse zusammenfügende Arbeitsstelle zu erfahren. So wie sie ihre Arbeit beschreibt, entsteht der Eindruck, dass sie mit Begeisterung jeden Tag etwas Neues dazu lernt. Lernen und sich verändern sind zwei Antriebskräfte, die in allen Texten – selbstverständlich auch, wie das beim Lernen dazugehört, mit all ihren Krisen – zentral sind.

Funktion von Arbeit statt berufliche Laufbahnen

Die Biografisierungen des Alltagsstoffs (Leben und Arbeiten), die Goettle in ihre Porträts setzte, legen den Fokus auf das "tätige gesellschaftliche Sein". Die privaten Dimensionen sind dabei nur so wichtig, als sie Mit-Verursacherinnen für Wandel und notwendiger Reflexion wurden. Die Tätigkeiten sind häufig eine Berufung, die in den selbst bestimmten Sinn eingebettet sind. Die Interviews zeigen keine "beruflichen Laufbahnen" also "Karrieren", obwohl es sich durchaus bei der Hausmeisterin oder der Wissenschaftlerin, der Bestatterin oder der Sozialarbeiterin um Berufsverläufe handelt; vielmehr wird die sinnstiftende Funktion der Arbeit, der verarbeitete gesellschaftliche Ausschnitt, das widerständige Wollen, die Kritik an Zu- und Umständen, kurz und knapp: der Grund und seine Ausformung für diese Tätigkeiten entfaltet. Und in allen Interviews wird die Sache, um die es geht dargestellt und auf wundersame Weise die Darstellende anstrengungslos kenntlich. In  diesen erzählten Suchen nach dem richtigen Leben wird ein Selbstbewusstsein erkennbar, das weit über sich hinausweist und die Lust dieser Suche zu transportieren weiß.

Der Vorschlag, der aus diesen Texten an Sozialwissenschaflterinnen notwendig mitzunehmen ist, lautet: sammelt die vielen klugen konkreten Verneinungen zu den gesellschaftlichen Bedingungen ein. Sie sind kompetent formuliert, zusammen ergäben sie ein Netz von Widerspruch und Veränderungswillen.

Und nach dem Lesen des Buches hat die Leserin ihren Kreis von interessanten und auch provokanten Frauen um die Zahl 26 erweitert. Was sie eher dazu bringt das Zimmer zu verlassen, um solche auf den öffentlichen Plätzen wieder zu finden, als auf der Couch sitzen zu bleiben und zufrieden zu sein mit dem was ist. (Gastautorin Kornelia Hauser, dieStandard.at, 8.3.2013)