Belle Époque, reduziert auf das Wesentliche: Das Stiegenhaus in der Kunstgewerbeschule in Weimar. Henry van de Velde gilt in Fachkreisen als Bindeglied zwischen Jugendstil und Bauhaus.

Foto: Thüringen Tourismus

Mit Weimar verbindet man Schiller, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Luther, Wagner, Liszt und Bach. Und natürlich Bauhaus sowie Thüringer Klöße. Dass diese mit berühmten Söhnen und mehr oder weniger bedeutsamem Kulturgut keineswegs geizende Stadt auch eine Hochburg des Jugendstils ist, wird dabei oft vergessen.

Das aktuelle Jubiläumsjahr, in dem der 150. Geburtstag des Designers und Architekten Henry van de Velde begangen wird, bietet die Möglichkeit, dieses Versäumnis nachzuholen. Gefeiert wird in vollen Zügen: mit etlichen Ausstellungen, Führungen, Tagen der offenen Tür sowie mit Henry-van-de-Velde-Torten und Henry-van-de-Velde-Kaffee auf und in Henry-van-de-Velde-Porzellan. Das Partybudget beträgt rund 3,2 Millionen Euro. Ein beträchtlicher Teil kommt von Privatstiftungen.

Eines der bekanntesten Gebäude des in Antwerpen geborenen Universalgenies ist die Kunstgewerbeschule im Süden der Innenstadt, nur wenige Schritte vom Liszt-Haus entfernt, errichtet zwischen 1904 und 1910. Robert Verch, Architekturabsolvent und bekennender Van-de-Velde-Fan, organisiert Führungen durch die Bauten des Jubilars. Und er versteht es, sein Publikum mit den kleinsten Details zu faszinieren.

Schon steht er mitten im Stiegenhaus seiner ehemaligen Schule, blickt hinauf in die Treppenspindel, und während er zu den ersten Worten ansetzt, heben sich hinter seiner Nickelbrille langsam die Augenbrauen: " So etwas haben Sie noch nie gesehen! Normalerweise ist ein Betonbalken dazu da, um die Last nach allen Seiten abzutragen. Aber sehen Sie diese herausgebissene Mulde da oben, die den Kurven der Wendeltreppe folgt? Ist das nicht dreist? Henry van de Velde hat es doch glatt gewagt, die Optik der Statik vorzuziehen!"

Dass Van de Velde nur ein Fall für die verkopfte, intellektuelle Oberschicht war, lässt sich beim besten Willen nicht sagen. Ganz im Gegenteil. Der ausgebildete Maler und Kunsthandwerker, der schon zu Beginn seiner Karriere vorwiegend für deutsche Kunden tätig war und daher bald von Belgien über Berlin nach Weimar emigrierte, war ein Tausendsassa und ein regelrechtes Arbeitstier. Mehr als 10.000 realisierte Entwürfe gehen auf ihn zurück.

"So ein großes OEuvre wie bei Henry van de Velde kennt man von keinem anderen planenden Menschen auf der Welt", sagt Thomas Föhl. Der 58-jährige Kunsthistoriker ist Leiter der Klassik-Stiftung Weimar. "Es gibt wohl keinen Gegenstand, dem dieser Alleskönner nicht irgendwann in seinem Leben Gestalt verliehen hat." Zu seinen Arbeiten zählen Haushaltsartikel, Geschirr, Möbel, Einfamilienhäuser, Schulen, Bücher, Schuhe, Kleidung, Kutschen, Automobile, Schiffskabinen, Fährschiffe und ganze Zuggarnituren. Sogar das berühmte B-Logo der Belgischen Staatsbahn aus dem Jahr 1936 stammt aus Henry van de Veldes Feder. Im Archiv der Klassik-Stiftung ist alles ganz genau dokumentiert und katalogisiert. 55.000 Fotos seiner Werke liegen in den Laden.

Bei einem Spaziergang durch den Park an der Ilm kann man wieder frische Luft schnappen. Das romantisch angelegte Wäldchen mitten in der Stadt ist quasi der Central Park Weimars. Man geht vorbei an Ruinen, mitunter auch an wilden Rehen, und mit einem kleinen Schlenkerer gelangt man sogar zu Goethes kleinem Gartenhaus, das er als Refugium und Klausur für seine Arbeit nutzte. Hier erblickten unter anderem Iphigenie auf Tauris und Torquato Tasso das Licht der Welt. Es ist wohl einer der wenigen Orte in der ganzen Stadt, an dem der belgische Henry, der sich sogar über das Wohnhaus Friedrich Nietzsches hermachte, keine baulichen Spuren hinterließ.

Hightech statt Ornament

An der Belvederer Allee 58 liegt, hinter Bäumen und Büschen verborgen, das Haus Hohe Pappeln, zur Gänze errichtet aus lochzerfressenem Travertin. Henry van der Velde baute das Haus 1907 für sich und seine Familie. Heute wird die Jugendstilvilla als Museum genutzt. Zumindest im Erdgeschoß. Man sieht die originalen Stoffbespannungen und Vertäfelungen, die alten Lüftungslöcher, durch die die beheizte Luft in den Raum strömte, und die originalen Lichtschalter, die in den hölzernen Türrahmen versteckt sind. Hier war ein Hightech-Freak und Besessener am Werk.

Oben im ersten Stock ist ein weiterer Besessener daheim: Thomas Föhl von der Klassik-Stiftung. "Ich habe mich 20 Jahre lang darum bemüht, dieses Haus kaufen zu können. Eines Tages hat es dann endlich geklappt", sagt er. Und dann ist da plötzlich dieses unschwer zu deutende Grinsen in seinem Gesicht: "Mittlerweile habe ich schon mehr Jahre in diesem Haus verbracht als Van der Velde selbst!" Der Bau, der schon ein Dutzend Male den Besitzer wechselte und während der DDR-Zeit als Wohnheim für Bedürftige und Obdachlose diente, steht seit 1985 unter Denkmalschutz. Ab dem 24. März kann es wieder besichtigt werden.

Man braucht kein Kenner der Materie zu sein, um sich über den Thüringer Jugendstil zu wundern. Mit den verspielten, verschnörkelten Kreationen eines Gustav Klimts, Otto Wagners oder Josef Maria Olbrichs, der etwa die Wiener Secession plante, haben die Häuser des belgischen Zeitgenossen nichts gemein. Die Architektur ist sachlich und nüchtern. In Fachkreisen wird Van de Velde, der intensive Kontakte zu Walter Gropius und Oskar Schlemmer pflegte, sogar als Brücke zwischen Jugendstil und Bauhaus gesehen. Das ging so weit, dass er selbst es zutiefst ablehnte, als Jugendstilarchitekt bezeichnet zu werden. In seinen Weimarer Jahren soll er sich einmal über die floralen Auswüchse seiner Kollegen echauffiert haben: "Es reicht! Die Zeit des Ornaments aus Ranken, Blüten und Weibern ist vorbei!"

Von Blütenduft und Weiblichkeit ist außerhalb Weimars zur Jahrhundertwende nicht viel zu bemerken. Die umliegenden Städte, die im Krieg massiver als Weimar bombardiert wurden, waren damals Hochburgen von Industrie und Gewerbe. Jena war bekannt für seine Optik- und Feinmechanikindustrie. Die Backsteinbauten der Jenaer Glasschmiede Schott und von Carl Zeiss prägten das Stadtbild. Zudem prosperierte in Gera die Elektronik- und Textilindustrie. Die baulichen Spuren sind nicht zu übersehen.

Einer, der von der industriellen Blüte zur Jahrhundertwende besonders profitierte, war der Geraer Textilfabrikant Paul Schulenburg. Für ihn errichtete Van de Velde 1913 bis 1915 am Rande des Stadtwalds eine riesige Villa samt umliegendem Garten, in dem einst die größte, prächtigste Orchideensammlung Deutschlands gedieh. Sogar Möbel, Stoffe und Geschirr wurden eigens für dieses Haus entworfen. Nach der Enteignung 1946 diente das Haus als Schwesternschule. Nach der Wende 1989 stand es jahrelang leer und war dem Verfall preisgegeben.

Heute erstrahlt die Villa Schulenburg, wohl eines der schönsten Schmuckstücke Henry van de Veldes, nach 15-jähriger Sanierung und Renovierung im neuen Glanz. Zu verdanken ist dies dem Psychiater und Neurologen Volker Kieselstein. "Mit neun Jahren war ich bereits von Henry van de Velde fasziniert, ich bin hier als Schulkind regelmäßig vorbeigegangen, und so konnte ich gar nicht anders, als mich dieses verfallenen Hauses endlich anzunehmen", sagt Kieselstein. "Ich führe ein Doppelleben. Van de Velde ist meine zweite Liebe."

Briefe an Friedrich Nietzsche

In einer Dauerausstellung sind Fotografien und Briefwechsel zwischen Henry van de Velde und Friedrich Nietzsche zu sehen. Die beiden konnten sich gut leiden. Zwischen den Zeilen sticht plötzlich ein jugendstilsicher gestaltetes Büchlein aus der Vitrine. Gold auf weiß: Ecce Homo. Doch das eigentliche Exponat ist das Haus selbst. "Die Rekonstruktion dieses Gebäudes hat mich in seinen Bann gezogen", erzählt Kieselstein. "Für mich ist das ein Stück Kulturgut. Wo sonst sieht man schon solche ausgeklügelten Fensteröffnungsmechanismen und so eine schöne handwerkliche Präzision? Das gibt es heute nicht mehr! Davon können wir heute viel lernen."

Finanziert wird das herrliche Haus, in dem heute die Europäische Vereinigung der Freunde Henry van de Velde beheimatet ist und das immer wieder als Hochzeitslocation angemietet wird, unter anderem von der Deutschen Stiftung für Denkmalschutz. Ein zweifelsfrei aufwändiges finanzielles Engagement, aber: "Über Einzelheiten rede ich nur mit meinem Steuerberater", sagt Volker Kieselstein. Er zieht ein Stofftaschentuch aus seiner Jackentasche und poliert den Türknauf im Salon. "Ich sagte Ihnen ja gerade: Es ist eine Liebe."   (Wojciech Czaja, Album, DER STANDARD, 9./10.2.2013)