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Aufkeimender Vegetarismus gegen überbordenden Fleischkonsum: Was pflanzenorientiertes Essen dem Körper bringt.

Foto: APA/Georg Hochmuth

Hollywood hat es mal wieder verbockt. Die römischen Gladiatoren waren keineswegs erotische Muskelpakete, sondern glichen japanischen Sumo-Ringern. Das hat ein Team um den Wiener Anthropologen Karl Großschmidt vor ein paar Jahren herausgefunden. Der Grund für die Speckschicht: Sie schützt vor Verletzungen. Womit Großschmidt aber vor allem für Aufsehen sorgte, war: Die Gladiatoren ernährten sich vegetarisch mit Gerste, Hafer und Hülsenfrüchten. Abgeleitet haben das die Forscher aus den hohen Strontium- und niedrigen Zinkwerten in den Knochen, die man auf einem Gladiatorenfriedhof in Ephesos entdeckte.

"Fleisch ist ein Stück Lebenskraft", hatte das Fleischerhandwerk einst stolz verkündet. Die Gladiatoren beweisen, dass man auch ohne tierische Proteine zu den Stärksten gehören kann.

Die Faktenlage

Auch die Forschung hat sich des Vegetarismus und Veganismus in den vergangenen Jahren verstärkt angenommen. Einige Mythen über angebliche Probleme der fleischlosen Ernährung sind dabei mächtig ins Wanken geraten. "Der Wind hat sich gedreht", sagt Andreas Michalsen, Chefarzt am Zentrum für Naturheilkunde des Berliner Immanuel-Krankenhauses. "Vor 20 Jahren hat man noch gefragt, wie schädlich vegetarische Kost ist. Heute fragt man, wie gesundheitsfördernd sie ist."

Im Dezember gaben Michalsen und der Leiter des Instituts für alternative und nachhaltige Ernährung in Gießen, Markus Keller, auf einer Konferenz zu vegetarischer Ernährung in Berlin einen Überblick über die wichtigsten Forschungsergebnisse. Fazit: Das Risiko, an Herz- und Krebsleiden, Schlaganfällen, Rheuma, Diabetes mellitus oder Bluthochdruck zu erkranken und übergewichtig zu werden, ist für Menschen, die auf Fleisch verzichten, deutlich geringer. Verstopfungen und damit verbundene Risiken wie etwa Darmkrebs werden durch ballaststoffreiche Kost vermindert. Eine Eisenmangelanämie, also Blutarmut, kommt bei Vegetariern nicht häufiger vor als bei Nichtvegetariern. Studien aus der Altersforschung weisen zudem darauf hin, dass Vegetarier länger leben.

Unscharfe Selbstauskünfte

Einige Forscher sind skeptisch. "Wir sind durch Beobachtungsstudien nicht in der Lage, die kausalen Ursachen festzustellen", sagt Gisela Olias vom Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Es gebe zu viele Faktoren, die zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Diabetes führen. Zudem basieren die meisten Studien, welche die Vor- und Nachteile der vegetarischen Ernährungen untersuchen, auf Selbstauskünften und haben dadurch eine Unschärfe; schließlich ginge der Verzicht auf Fleisch meist mit einer generell gesünderen Lebensweise einher, sagt Olias. Vegetarier treiben mehr Sport und rauchen und trinken weniger.

Herausgerechnet haben diesen Effekt Forscher der Loma Linda University in den USA. Sie untersuchten in zwei Langzeitstudien zwischen 1976 und 1988 sowie seit 2002 34.000 beziehungsweise 96.000 Anhänger der protestantischen Siebenten-Tags-Adventisten in den USA und Kanada. Dabei fanden sie heraus, dass bei den auf Alkohol, Tabak und Rauschmittel verzichtenden Adventisten die Wahrscheinlichkeit, an einer Herzattacke zu sterben oder an Blasenkrebs zu erkranken, für Fleischesser doppelt so hoch ist wie für die Vegetarier. Bei Darmkrebs stellten die Forscher sogar ein 85 Prozent höheres Risiko für Nichtvegetarier fest.

Die Ursachen dafür sind noch unklar. Manche Ärzte glauben, dass im Fleisch enthaltene gesättigte Fettsäuren, Salz und Eisen für Infarkte, Schlaganfälle, Bluthochdruck und Krebs verantwortlich sind. Eisen etwa kann im Körper die Bildung schädlicher Nitroso-Verbindungen fördern. Forscher wie Nobelpreisträger Harald zur Hausen wiederum vermuten, dass Viren im rohen Rindfleisch Krebs auslösen können. Allerdings ist die Faktenlage nicht eindeutig. So hatte die Universität Oxford vor drei Jahren nach Auswertung der Daten von 61.000 Briten festgestellt, dass Vegetarier zwar seltener an Blut-, Blasen- und Magenkrebs erkranken, beim Darmkrebs bemerkten die Forscher allerdings ein 30 Prozent höheres Risiko für Vegetarier.

Gesund und gesünder

Für Markus Keller ist klar, dass Vegetarier zwar nicht unbedingt länger - mit Sicherheit aber länger gesund leben. Allerdings: "Vegetarisch ist nicht gleich vegetarisch, und Fleisch ist nicht gleich Fleisch." Eine Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg aus dem Jahr 2005 fand heraus, dass Personen, die selten Fleisch essen und auf eine gesunde Lebensweise achten, prinzipiell am gesündesten leben. Knapp 2000 Menschen waren für diese Studie 21 Jahre lang beobachtet worden.

Auch ein Forscherteam der Harvard School of Public Health in Boston hatte jüngst eine Studie im Fachblatt Archives of Internal Medicine veröffentlicht, wonach der moderate Konsum von Fleisch kein erhöhtes Risiko für Diabetes und Herzerkrankungen darstelle. Fleisch, dass durch Räuchern, Salzen oder den Zusatz von nitrithaltigem Pökelsalz behandelt wurde, wie Schinken oder Wurst, sei dagegen bedenklich. Schon der tägliche Verzehr von rund 50 Gramm erhöhe das Diabetesrisiko um 19 Prozent, das Herzerkrankungsrisiko um 42 Prozent. Zudem hatten die Forscher festgestellt, dass der Verzehr von "rotem Fleisch" (Rind, Schwein, Lamm) prinzipiell ungesünder sei als der von Geflügel oder Fisch. Auch bei fleischloser Kost müsse man genau hinsehen, sagt Michalsen. "Es gibt gute und schlechte Fette oder Kohlenhydrate." Zudem gebe es bei Vegetariern große Unterschiede. Manche verzichten nur auf Fleisch, essen aber Milchprodukte (Lacto-Vegetarier), andere verzehren noch Eier (Ovo-Lacto-Vegetarier) oder verzichten völlig auf tierische Produkte (Veganer).

Nährstoffmangel bei Kleinkindern

Prinzipiell sei eine vegetarische Kost bei einer ausgewogenen Ernährungsweise bedenkenlos, heißt es bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). "Je eingeschränkter die Lebensmittelauswahl und je weniger abwechslungsreich die Kost, desto größer ist die Gefahr von Nährstoffmangel", sagt DGE-Sprecherin Antje Gahl. Dies gelte insbesondere für Säuglinge und Kinder, die Proteine, Eisen, Kalzium, Jod und B-Vitamine für ihr Wachstum brauchen. Während der Bedarf an diesen Nährstoffen durch eine vegetarische Kost durchaus gedeckt werden könne, sei dies durch eine vegane Kost kaum möglich. "Von einer veganen Ernährung raten wir bei Kleinkindern ab."

Ein kritischer Nährstoff, auch bei Erwachsenen, ist Vitamin B12. Der Körper braucht ihn nur in geringen Mengen. Er ist aber wichtig für das Funktionieren von Nervensystem, Zellteilung und Blutbildung. In gewaschenen, pflanzlichen Lebensmitteln kommt Vitamin B12 praktisch nicht vor. Zwar enthalten fermentierte Algen sowie Milchprodukte und Eier geringe Mengen, eine ausreichende Versorgung ist für Lakto-(Ovo)-Vegetarier dadurch aber nicht immer gewährleistet. Für Veganer ist sie praktisch unmöglich. Sie sollten deshalb mit Vitamin B12 angereicherte Lebensmittel verzehren, rät die DGE.

Nutzen vor Risiken

Eine Kleinigkeit, glaubt Andreas Michalsen. "Der Nutzen der fleischlosen Ernährung übersteigt die Risiken bei weitem", betont er. Der Ernährungswissenschafter Claus Leitzmann sagt, dass Fleisch für die Evolution des Menschen eine wichtige Rolle gespielt habe. "Der Verzehr von Aas und Knochenmark förderte die Entwicklung des Großhirns." Allerdings habe sich das Gehirn in den vergangenen 100.000 Jahren nicht mehr vergrößert. Und dem bewegungsarmen Wohlstandsbürger würde eine kalorienärmere, vegetarische Kost gut bekommen.

Angesichts der Zustände in der Tierproduktion eine logische Entscheidung, findet die US-Psychologin Melanie Joy, Professorin an der University of Massachusetts in Boston. Ihr Fazit auf der Berliner Vegetarierkonferenz: "Fast alle Menschen haben moralische Bedenken beim Fleischkonsum." Dass sie weitermachen, könne man nur mit einem Verdrängungsmechanismus erklären, den Joy "Karnismus" nennt. "So schafft es der Mensch, keine Verbindung zwischen dem Fleisch auf dem Teller und dem Tier, das es einmal war, zu ziehen", sagt Joy. Diese selektive Empathie führe dazu, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Tiere für essbar definieren - und dieselben Menschen mit der einen Hand ein Tier streicheln, während sie in der anderen einen Burger halten.

Radikale Trennung

Der US-Sozialpsychologe Hank Rothgerber von der Bellamine University in Louisville, Kentucky, fand unlängst heraus, dass es vor allem maskulin auftretende Männer sind, die ihren Fleischkonsum zelebrierten und mit einer menschlichen Überlegenheit rechtfertigten. Frauen neigten dazu, zwischen der Nahrung und den Tieren, die sie liefern, radikal zu trennen und jeden Gedanken an Massentierhaltung und Schlachthöfe zu verdrängen.

Dieser Widerspruch hatte auch Andreas Michalsen vor einigen Jahren dazu bewogen, Vegetarier zu werden. "Das beste Fleisch ist immer noch Fruchtfleisch", sagt er augenzwinkernd. (Sebastian Meyer, DER STANDARD, 11.3.2013)