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Die Pferdeäpfel-Theorie besagt: "Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf der Straße landen, um die Spatzen zu füttern"

Foto: Reuters/Sigheti

Die Idee ist bestechend: Mit der Wirtschaft geht es aufwärts, den Unternehmen geht es gut, der Wohlstand wächst – und alle haben etwas davon. Jahrelang haben viele Ökonomen die Theorie mit Hingabe wiederholt. Vor allem dann, wenn Kapitalismuskritiker auf die unübersehbare Armut in der Welt hinwiesen. Die Flut hebt alle Boote, davon zeigten sich viele dennoch felsenfest überzeugt.

Der möglichst wenig regulierte Kapitalismus werde ganz von selbst dafür sorgen, dass sich die ungleichen Lebensverhältnisse angleichen. Weltweit, aber auch innerhalb der einzelnen Länder. Durch die Globalisierung steige Wachstum und Wohlstand in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Auch wenn anfangs davon nur die oberen Zehntausend profitieren, sickere der neue Reichtum nach und nach auch nach unten durch, so die These. Angelsächsische Ökonomen haben dafür den Begriff "trickle down effect" geprägt.

Wer hat, der investiert

Die  Annahme beruht darauf, dass Personen mit großem Vermögen mehr investieren. Davon würden wiederum die unteren Bevölkerungsschichten durch Aufträge und Löhne profitierten. Die Idee betörte vor allem liberale Ökonomen. Die Schlüsse, die daraus gezogen wurden: Der Staat brauche sich nicht um Verteilungsfragen zu kümmern, der Markt wird es richten. Voraussetzungen dafür: Steuern und Inflation sind niedrig, die Staatsfinanzen in Ordnung und die Güter- und Finanzmärkte offen.  Die Krise versetzte bekanntlich den Alle-Macht-dem-Markt-Apologeten einen kräftigen Dämpfer. Bis vor wenigen Jahren bestimmte der sogenannte "Washingtoner Konsens" die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds.

Dass die Sache so funktioniert, davon war vor allem auch David Stockman, Ronald Reagans Chefberater in Wirtschaftsfragen, überzeugt. Als Urahn der Theorie gilt vielen Adam Smith. "Es ist die große Vermehrung der Produktion in allen möglichen Sparten als Folge der Arbeitsteilung, die in einer gut regierten Gesellschaft jenen universellen Reichtum verursacht, der sich bis zu den niedrigsten Bevölkerungsständen verbreitet." (Wealth of Nations).

Zweifel an Durchlässigkeit

Zweifel an dieser Durchlässigkeit gab es wiederholt - auch in jüngerer Vergangenheit: Weder in den Schwellen- und Entwicklungsländern noch in den reichen Volkswirtschaften hat sich die Schere zwischen Arm und Reich spürbar geschlossen. Im Gegenteil - in vielen Fällen ist sie über einen längeren Zeitraum betrachtet gewachsen. Der australische Volkswirt John Quiggins, Autor des Buches "Zombie Economics", zählt die "trickle down"-These zu den wirtschaftswissenschaftlichen Theorien, die auf ganzer Linie gescheitert sind.

Das Wirtschaftswachstum der vergangenen beiden Jahrzehnte sei an den Armen vorbeigegangen, besagte auch eine Studie der Volkswirte Ravi Kanbur und Andy Sumner im Jahr 2011. Demnach lebten vor 20 Jahren 93 Prozent der Armen der Welt in Staaten, die gemessen an ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen zu den globalen Schlusslichtern gehörten. Heute sieht das in etwa so aus: Fast drei Viertel aller Armen leben in Staaten, die gemessen an ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen im weltweiten Mittelfeld liegen.

Auch in den Industriestaaten haben in den vergangenen Jahrzehnten die oberen Zehntausend vom Wirtschaftswachstum vergangener Jahrzehnte profitiert: Die Menschen, die mehr Geld haben als die restlichen 99 Prozent der Bevölkerung, beziehen heute rund ein Fünftel des gesamten Einkommens. Bis Ende der 1970er Jahre waren es weniger als halb so viel. Betrachtet man die wohlhabendsten 0,01 Prozent der Menschheit, so entfallen auf sie heute mehr als fünf Prozent des gesamten Einkommens. Vor 30 Jahren war es nur rund ein Prozent.

Hafer füttern und reich ernten

Doch zurück zur Theorie: Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf der Straße landen, um die Spatzen zu füttern: Das despektierlich auch Pferdeäpfel-Theorie genannte Modell beruht auch auf dem Glauben, je höher die Steuerlast, umso geringer das Wachstum. Auch dem widersprach jüngst eine Studie des parteiunabhängigen amerikanischen Congressional Research Service. Der Think Tank sah sich die Einkommen- und Kapitalgewinnsteuern der US-Spitzenverdiener in den letzten Jahrzehnten an. Für das reichste Promille der Amerikaner lag die Einkommensbesteuerung 1945 im Schnitt bei 60 Prozent, in den 1960er Jahren bei knapp 40 Prozent, bis 1990 fiel sie auf 24 Prozent.

Auf die Entwicklung des Wirtschaftswachstums hatte das keinen Effekt. In den 1990er Jahren – als US-Präsident Bill Clinton die Steuern deutlich anhob, gab es eine leicht wachsende US-Wirtschaft. Nachfolger George W. Bush senkte die Steuern wieder: Die Wachstumsraten sanken ebenfalls. Studienautor Thomas L. Hungerford: "Die Reduktion der Höchststeuersätze scheint nicht mit Investitionen und Produktivitätswachstum zusammenzuhängen."

Eine Erkenntnis, die andere schon vorher hatten:  Ein Forscherteam um Dan Andrews von der Harvard University hat den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum am Beispiel von zwölf Industriestaaten und für die Jahre von 1905 bis 2000 untersucht. Das Fazit: "Wir finden keine systematische Beziehung zwischen dem Einkommensanteil der Topverdiener und dem Wirtschaftswachstum." (Regina Bruckner, derStandard.at, 12.3.2013)