Filme gegen die verstellte Wirklichkeit: Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl erforscht in seiner international erfolgreichen "Paradies" -Trilogie die Sehnsucht nach Liebe.

Foto: Sepp Dreissinger / Stadtkino

Der Regisseur über Erwin Pröll, Tabus und üppige Körper.

Standard: Sie haben für Erwin Prölls "Initiative Niederösterreich" in der Landtagswahl geworben. Sind Sie denn mit dem Wahlausgang zufrieden?

Seidl: Ich war weder Wahlwerber noch Wahlkämpfer. Insofern ist das Wahlergebnis für mich nicht relevant. Ich finde jedoch, Erwin Pröll hat kulturpolitisch unglaublich viel umgesetzt. Das muss man auch einmal honorieren. Dass ich nicht auf der Linie der ÖVP liege und vieles aus deren Programm nicht meiner Weltsicht entspricht, ist ohnehin klar. Dazu kommt, dass Erwin Pröll, der sicherlich nicht oft dazu kommt, ins Kino zu gehen, Paradies: Liebe angeschaut hat und sehr direkt und persönlich reagiert hat.

Standard: Macht man sich und sein Werk durch eine solche politische Unterstützung nicht angreifbar - von wegen Staatskünstler?

Seidl: Angreifbar zu sein ist doch nichts Schlechtes. Und zweitens: Was heißt hier Staatskünstler? Jeder österreichische Film wird mit Mitteln der Kulturförderung unterstützt. Meine Filme werden somit vom Bund, von der Stadt Wien, vom ORF und auch vom Land NÖ mitfinanziert, wobei der niederösterreichische Budgetanteil ein verschwindend kleiner ist. Ich weiß schon, dass viele es nicht goutieren, wenn sich der Seidl für den Pröll deklariert. Aber ich unterschreibe ja auch nicht das SP-Programm blanko. Und: Ich besitze in Niederösterreich nicht einmal ein Wahlrecht.

Standard: Sie schauen den Österreichern gerne in die Seele: Was sagen Sie zu Stronach?

Seidl: Ich finde es generell unsympathisch, dass sich jemand mit Geld in die Politik einkauft. Er hat nichts zu sagen. Außer dass er behauptet, er werde es anders und besser machen, ist da nichts.

Standard: Er wirbt mit seinem Selfmademan-Image.

Seidl: Das ist doch von vorgestern. Das Märchen vom amerikanischen Traum trifft heute nicht mehr zu. Mir ist unverständlich, was in den Menschen vorgeht, die ihn wählen. Unsere Welt schaut anders aus.

Standard: Das zeigen Sie auch in ihren Filmen: "Paradies: Hoffnung", der unter Teenagern in einem Diätcamp spielt, ist allerdings milder als gewohnt. In Berlin sprach man von einem sanften Seidl. Hat Sie das überrascht?

Seidl: Nein, das wusste ich schon, weil man ja im Schneideraum im engeren Kreis auch Feedback bekommt. Mir war klar, dass in dem Film weniger Sprengstoff liegt als in den anderen beiden.

Standard: Woran liegt das?

Seidl: Das war schon im Buch angelegt; hätte ich vom Missbrauch eines der Mädchen erzählt, wäre das anders gewesen. Dieses Tabu wird nicht berührt. Die Jugendlichen sind in ihrem Spiel so sympathisch und frei - das erzeugt beim Zuschauer eine größere Nähe. Die Jugendlichen beugen sich der Erwachsenwelt nicht. Wenn sie zusammen sind, entsteht eine eigene Welt, egal wie hoch der Druck von außen ist. Außerdem ist mein Zugang zu Minderjährigen, zu Kindern weit vorsichtiger.

Standard: Weil man weniger weit mit ihnen geht?

Seidl: Die Verantwortung ist noch größer. Gewisse Dinge lässt man nicht aufkommen; solche, die man mit Erwachsenen zumindest diskutieren kann. Wir haben mit insgesamt 18 Kinder gedreht, die viel Zeit miteinander verbracht haben. Das Diätcamp haben wir selbst organisiert. Dadurch ist auch ein Gemeinschaftssinn entstanden, der Sicherheit, Schutz bedeutet hat. Niemand fühlte sich ausgestellt.

Standard: In der "Paradies"-Trilogie spielen Körper und ihre Auffälligkeiten eine wichtige Rolle. Was fasziniert Sie denn an Körpern außerhalb der Norm?

Seidl: Die Frage ist, ob die Norm nicht woanders liegt.

Standard: Jenseits des dominanten Schönheitsbegriffs?

Seidl: Wir leben in einer verstellten Wirklichkeit, einer Medienwirklichkeit. Die Norm liegt ganz woanders, bei Menschen, die nicht den Schönheitsbildern aus Magazinen entsprechen. Der Durchschnitt ist näher an der Erscheinung Margarethe Tiesels aus Paradies: Liebe. Bei den Kindern ist das Problem ein anderes: Esssucht ist eine Krankheit. Bei Margarethe Tiesel kann man sagen, Schönheit ist auch kulturell bedingt. Bei den Jugendlichen ist das anders, die sind stigmatisiert.

Standard: Die ungewöhnlichsten Szenen aus "Paradies: Hoffnung" spielen im Freien: Welchen Bezug haben Sie zur Natur?

Seidl: Einen sehr starken. Ich bin im Waldviertel aufgewachsen und bei meiner Großmutter in der Wachau. Viele kindliche Erfahrungen, die auf die Sinne bezogen sind, haben mit der Natur zu tun - wie etwas riecht und schmeckt, das spielt auch in der Sexualität eine wichtige Rolle. Ich wollte immer, dass diese Szenen in der Natur spielen. Dass der Arzt an dem Mädchen riecht, ist auch ein Ausdruck dafür, dass er sie begehrt, aber eben nicht berührt. Er vergeht sich nicht an ihr.

Standard: Die Szene wirkt fast eine wenig fantastisch.

Seidl: Das liegt auch an der Bildgestaltung. Dass die beiden daliegen wie zwei aufgebahrte Tote, als hätten sie Suizid begangen.

Standard: Die Liebe bleibt in allen drei Teilen unerfüllt. Eine Trilogie der Verfehlung?

Seidl: Nicht der Verfehlung, eher der Sehnsucht. Jeder Mensch hat andere Möglichkeiten, um mit seinen unerfüllten Sehnsüchten umzugehen. Sehnsüchte sind immer nur Wege, aber sie führen nie zur Erfüllung. Und wenn doch, dann verschwindet das wieder. Es ist aber nicht so, dass den Frauen gar nichts gelingt. Natürlich kommt Teresa in Kenia auch auf ihre Kosten. Dass es für die wahre Liebe nicht reicht, ist etwas anderes.

Standard: Sie haben starke Frauenrollen geschaffen: Wie groß ist der Einfluss von Margarethe Tiesel, Maria Hofstätter und Melanie Lenz auf die jeweiligen Rollen?

Seidl: In Paradies: Hoffnung habe ich ein lolitahaftes Mädchen gesucht, das mit seinen Reizen sehr bewusst umgeht. Das haben wir nicht gefunden, also habe ich mich für eine unschuldige Variante entschieden. Bei Paradies: Liebe habe ich erst sechs Wochen vor Drehbeginn die Entscheidung für Tiesel getroffen. Am Ende ist es die Frage, ob man eine Frohnatur will oder jemanden, der introvertiert ist. Bei der Improvisation kann man nicht mehr "Mehr Humor" sagen, wenn die Person gar keinen hat. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 12.3.2013)