
DER STANDARD: Lehre gilt noch immer als Abschiebeposten für jene, die es nicht durchs Gymnasium geschafft haben. Gleichzeitig werden händeringend Fachkräfte gesucht. Das passt doch nicht zusammen?
Philipp Ikrath: Die öffentliche Diskussion zum Thema Lehre ist schizophren – einerseits wird von der wachsenden wirtschaftlichen Bedrohung durch den Fachkräftemangel geredet, andererseits fließen die öffentlichen Gelder fast nur für höhere Ausbildungen. Das geht mit der Entwertung von Bildungsabschlüssen einher, von der übrigens ja auch die Matura betroffen ist. Mit "nur Matura" kriegt man heute ja auch keinen prestigeträchtigen Job, da muss man schon studiert haben. Es wird derzeit versucht, die Akademikerquote auf Biegen und Brechen zu heben – die Studienarchitektur von Bologna an den Hochschulen verstärkt die Entwertung der Abschlüsse noch weiter. Was mich aber generell aufregt, ist die Ungleichbehandlung der Menschen. Wenn sich jemand mit recht guten schulischen Erfolgen bewusst für einen Lehrberuf entscheidet, weil es Freude macht, dann schwingt implizit "Das ist die falsche Entscheidung" mit. Quasi: Der hätte ja mehr zusammengebracht. Wobei: Auf dem Land ist der Ruf der Lehre viel besser als in den großstädtischen Bereichen.
DER STANDARD: Sie sehen die Imageprobleme der Lehre aber insgesamt verschlechtert?
Ikrath: Na ja, diese Diskussionen haben wir seit der Bildungsexpansion vor gut 20 Jahren. Aber eigentlich: Ja, weil eine Art Elitenförderung im Zentrum steht, vor allem wenn es um die Geldverteilung geht, dann wird über den tertiären Sektor verhandelt. Über Berufsschulen und deren Bedarf und Bedürfnisse redet niemand. Und dass die Berufsschulen völlig unzureichend ausgestattet sind, ist eine Tatsache. Aber eben eine, die unter den Mantel des Schweigens gekehrt wird, dafür gibt es kein öffentliches Interesse – oder zumindest nicht sehr viel.
DER STANDARD: Laut kommentiert wird sehr oft von Firmenchefs, dass die Lehrlinge heute kaum schreiben und rechnen könnten und bar jedweder sozialer Kompetenz seien. Ist das so?
Ikrath: Das sind verheerende Botschaften. Ich glaube, dass die Anforderungen an Lehrlinge immens gestiegen sind, quasi ein Anspruch ans Differenzialrechnen. Gleichzeitig ist es natürlich so, dass sich in der Lehrlingsausbildung die schwächeren Milieus sammeln, die einander nicht stark unterstützen und sowieso weniger Unterstützung erfahren.
DER STANDARD: Und die sozialen Kompetenzen? Bringen Jugendliche heute mit 14 Jahren einen kompletten Kanon an angemessenem Benehmen mit?
Ikrath: Na ja, also das halte ich sowieso für einen überzogenen Anspruch. Diese Klagen von Firmenchefs stimmen in meiner Wahrnehmung auch nicht mit den Berichten von Lehrlingsausbildnern, mit denen wir ja auch reden, überein. Klar, es gibt Problemfälle, aber insgesamt höre ich anderes. Am öffentlichen Wort sind offenbar viele Untergangspropheten.
DER STANDARD: Wo liegen die Hebel gegen implizite und explizite Abwertung der Lehre?
Ikrath: Das ist ganz schwierig. Der Trend zu höherer Bildung ist nun einmal nicht aufzuhalten.
DER STANDARD: Aber ein durchlässigeres System würde schon etwas bewirken, oder?
Ikrath: Sicher. Wenn sich der Doppelabschluss Lehre plus Matura beispielsweise einmal gut etabliert hat, dann ist die Lehre auch aufgewertet. Dann sind wahrscheinlich auch Eltern entspannter und lassen nach, ihre Kinder durchs Gymnasium zu boxen. Die ganze Bildungsdiskussion kommt bei Jugendlichen ja auch erst zu dem Zeitpunkt an, ab dem die Eltern zu hadern beginnen.
DER STANDARD: Wie weit sind wir von diesbezüglich entspannten Eltern entfernt?
Ikrath: Ein Stück.
DER STANDARD: Wie lässt sich die traditionelle Lehrwahl von Mädchen und Burschen aufbrechen? Wie kann es gelingen, dass die Technik auch in der Lehre weiblicher wird?
Ikrath: Gute Frage, ich habe kein Wundermittel. Wir wissen aus unseren Studien, dass finanzielle Anreize eine Rolle spielen. Aber kaum ein 14-Jähriger wird eine Lehre beginnen, unter der er sich nichts vorstellen kann. Wenn etwas motiviert, dann sind es recht pragmatische und logische Gründe.
DER STANDARD: Was motiviert also zu einer bestimmten Lehre?
Ikrath: Die Leute, das wissen wir aus unseren Jugendwerte-Studien, wollen von den Ausbildnern gut behandelt werden und gute Arbeitsbedingungen und vernünftige Arbeitszeiten.
DER STANDARD: Da tun sich Branchen wie der Tourismus etwas schwerer...
Ikrath: Ja, aber junge Menschen wollen auch eine Ausbildung und einen Beruf, der Spass macht – es hat also viele Dimensionen. Das gilt für die gesamte Gruppe der Nichtmaturanten: Sieben von zehn wollen, dass ihnen das Lernen und Arbeiten Spaß macht. Selbstverwirklichung spielt also eine Rolle. Und zwei Drittel erhoffen sich einen sicheren Arbeitsplatz.
DER STANDARD: Spricht das für Zukunftsängste?
Ikrath: Nein. Die Jugendlichen sind zwar für die Gesamtsituation nicht besonders optimistisch, für ihre persönliche Zukunft sind sie aber optimistisch. Bei den Lehrlingen ist es in Österreich so, dass zwei Drittel mit ihrer Lehre sehr zufrieden sind, und genauso viele rechnen auch damit, nach der Lehrzeit vom Betrieb übernommen zu werden. (Karin Bauer, Family, DER STANDARD, 14.3.2013)