"Manche Menschen, die hier Zeit verbringen, sagen Nuller zum O-Wagen. Menschen, die im Malipop trinken, zum Beispiel."

Foto: Anna Schoiswohl

Die Ungargasse im Dritten ist eine Schlucht, eine melancholische, aber gleichwohl schöne Schlucht. In der Ungargasse spielen weite Teile von Ingeborg Bachmanns Roman Malina. Wer dieses Buch gelesen hat, geht wahrscheinlich noch einmal anders durch die Ungargasse und empfindet die bourgeoise Traurigkeit des Straßenzugs wie mit Rotstift unterstrichen.

Durch die gesamte Ungargasse fährt der O-Wagen, eine der ehrwürdigsten Straßenbahnlinien der Stadt, er fährt eilig, blaue Blitze von der Oberleitung schleudernd, brüllend im Widerhall des Mauerwerks. Manche Menschen, die hier Zeit verbringen, sagen Nuller zum O-Wagen. Menschen, die im Malipop trinken, zum Beispiel.

"She's a movie"

Das Malipop liegt im untersten Ungargassenstück, dort, wo die Häuser am engsten stehen, im schattigen Erdgeschoß eines Eckhauses, seit mehr als dreißig Jahren. Das ist kein Café, kein Wirtshaus, das ist ein Lokal aus einer Zeit, in der man gerade begann, zu einem Lokal auch Lokal zu sagen. Frau Lisa und Frau Margit, Freundinnen, haben es miteinander aufgesperrt. Frau Lisa ist lange fort, und Frau Margit ist jetzt das Malipop.

Für sie gilt, was Nick Cave einmal ehrfurchtsvoll über June Carter-Cash gesagt: "She's a movie." Alterslos, immer in Schwarz, perlenbehängt, Kette rauchend. Und so wie Frau Margit an die Pin-ups des Existenzialismus erinnert, könnte man ihr in Wien seinesgleichen suchendes Lokal nehmen und in einer Pariser Hipsterstraße fallen lassen, es wäre einfach immer schon da gewesen. Für Berlin wär das Malipop, na ja, fast zu hübsch.

Ein ganz schmaler Raum auf zwei Ebenen, Marmortischerln, Lederbänke an der Wand, ein Mordstrumm Philodendron, schwarz gewordener Parkettboden. Und wie eine Haut der Rauch aus drei Jahrzehnten, das muss der Mensch mögen. Ich mag es. Im Dritten, wo ich seit bald zwei Jahrzehnten lebe, ist das Malipop mein Ort, um zu trinken. Ich trinke Seidln, weil ich finde, dass sich Krügeln an einem Ort mit so zierlichen Dimensionen verbieten.

Der Sekundärzustand

Es gibt zwei Verläufe meiner Abende im Malipop. Ich trinke vier Seidln, höchstens fünf, und gehe dann nach Hause. Dann war es früh genug. Dann schleicht sich der Rauch auf meinem Heimweg nach Erdberg zum größten Teil aus meiner Kleidung. Dann entnebelt sich mein Hirn vom Bier. Dann bin ich entronnen.

Oder aber ich trinke das magische sechste Seidl, womit ich in den Sekundärzustand des Malipop-Gastes eintrete. Da bleib ich dann lang, ich trinke nicht weiter, aber ich sitze. Wenn jemand da ist, führe ich ein Gespräch. Wenn nicht, höre ich Frau Margits Platten. Frau Margit spielt, immer schon, ausschließlich Platten. Was heißt: Sie hört Alben. Sie legt erst die A-Seite, dann die B-Seite auf. Wie die Künstler es gemeint haben.

Und wenn die Platte aus ist, hat Frau Margit noch keine neue vorbereitet. Sie steht, manchmal minutenlang, vor dem Regal und sucht die neue Musik aus, die sie dann auflegt. Hier könnten viele verlorene Seelen lernen, wie man seinen MP3-Player wegschmeißt, um wieder Musik zu hören. Mir persönlich ist es wurscht, dass das österreichische Radio meine Musik nicht spielt, weil ich weiß, dass Frau Margit im Malipop hie und da meine Platten spielt, auch wenn ich nicht da bin.

Seelenverlängerung

Diese Wirtin ist ein so respektvoller wie respektgebietender Mensch. Sie mag ein paar Sachen nicht. Wenn Leute die Füße auf die Lederbänke ziehen. Wenn Leute zu ihr an die Bar kommen und dämliche Musikwünsche äußern. Wenn Leute reden, während eines der kleinen, kostbaren Konzerte, die sie hier zulässt. Manchmal reicht schon ein penetrantes Lachen, dass sie kalt über den oberen Rand ihrer Brille schaut. Aber irgendwie glaube ich, dass der sensible Gast fühlen wird, dass dieses Lokal eine Art Seelenverlängerung seiner exquisiten Besitzerin ist, und sich dementsprechend benehmen.

Ich aber bleibe im Bann des sechsten Seidls so lange sitzen, bis der Hunger mich erlöst. Frau Margit bringt mir ihren sehr reduzierten, aber tadellosen Spezialtoast. Nachdem ich ihn verzehrt habe, trinke ich zum Schluss noch einen Fernet. Dann gehe ich, durch den steifen Landstraßer Wind. Der letzte Nuller schleudert einen blauen Blitz nach mir. (Ernst Molden, DER STANDARD, 16.3.2013)