Im Eingangsbereich des Gebäudes am Gumpendorfer Gürtel herrscht reges Treiben und es hat sich eine kurze Warteschlange von Menschen gebildet. Einige von ihnen treten mit hängenden Schultern ungeduldig von einem Bein aufs andere, manche unterhalten sich angeregt miteinander, die meisten Gesichter sehen müde aus.

Der Eingang zu der sozialmedizinischen Einrichtung befindet sich direkt am Gürtel.
Foto: derStandard.at/mob

Direkt hinter der Eingangstüre werden hinter einem Fenster aus Sicherheitsglas vakuumverpackte sterile Einwegspritzen an die Wartenden gereicht. Fast im Akkord wandern die Packungen über die Theke, es läuft alles recht freundlich und professionell ab. "Pro Tag werden im Durchschnitt 550 Mal Spritzen getauscht", erzählt Margit Putre von der Suchthilfe Wien.

Schutzraum ohne Konsum

Seit Juli 2012 ist die Suchthilfe in dem fünfstöckigen gelben Eckhaus bei der U6-Station Gumpendorfer Straße und gleich neben der Aids-Hilfe ansässig. Damals wurde die sozialmedizinische Einrichtung mit dem Allerweltsnamen "jedmayer" hier in Betrieb genommen. "Wir sehen das Gebäude vor allem als Schutzraum und Beratungsstelle für Suchtkranke. Wir erlauben aber keinen Konsum im Haus", erklärt Putre in ihrem Büro im dritten Stock. Sie ist im "jedmayer" für Beratung, Betreuung, Versorgung und Wohnen zuständig. Insgesamt sind in der Einrichtung mehr als 50 Personen beschäftigt: von Sozialarbeitern über medizinisches bis hin zu administrativem Personal.

Insgesamt 26 Betten stehen im "jedmayer" zur Verfügung.
Foto: derStandard.at/mob

Vor dem Einzug in das helle und weitläufige Gebäude am Gürtel konnten sich Drogenkonsumenten an die Beratungsstellen Ganslwirt in der Gumpendorfer Straße und Tabeno am Wiedner Gürtel wenden. Beide Einrichtungen drohten jedoch aus allen Nähten zu platzen, weshalb im vergangenen Sommer der Umzug erfolgte. "Wir haben hier viel mehr Platz, was ein ganz anderes Arbeiten mit den Klienten ermöglicht", sagt Putre. So habe man nun ein sehr großes Tageszentrum inklusive Gruppenräumen, eine Notschlafstelle mit 26 Betten und ein Ambulatorium unter einem Dach zur Verfügung.

Volle Auslastung seit Beginn

Zielgruppe der Einrichtung sind Drogenkonsumenten, die psychisch, körperlich und sozial beeinträchtigt sind und sich vorwiegend im öffentlichen Raum aufhalten. Viele von ihnen sind wohnungslos. Laut offiziellen Schätzungen der Stadt bewegen sich in Wien etwa 300 suchtkranke Obdachlose im Öffentlichen Raum. Experten gehen aber von einer viel höheren Dunkelziffer aus.

In der Einrichtung werden auch verschiedenste Aktivitäten angeboten.
Foto: derStandard.at/mob

Erste Befürchtungen, dass die neue Einrichtung nicht gut angenommen wird und der Kontakt zu Klienten abbricht, sind nicht eingetreten, so Putre. "Im Gegenteil – wir sind mehr als ausgelastet. Im Vergleich zum Ganslwirt und dem Tabeno gibt es einen klaren Anstieg, was die Anzahl der Hilfesuchenden betrifft." Im Moment würden in etwa 600 bis 700 Klienten täglich das "jedmayer" aufsuchen, unter denen sich aber nicht nur wohnungslose Drogenkonsumenten befinden.

Treffpunkt Tageszentrum

Im Raucherraum des Tageszentrums im Erdgeschoß herrscht Vollbetrieb, auch der Nichtraucherbereich ist gut besucht. Hier erhalten die Klienten zu günstigen Preisen Getränke und Essen. Ein Menü kostet zum Beispiel 1,35 Euro. Während sich die meisten Besucher des Tageszentrums lautstark unterhalten, haben andere erschöpft ihren Kopf auf der Tischplatte abgelegt. "Das Tageszentrum soll wie ein Lokal funktionieren", erklärt Putre beim Rundgang – und so fühlt es sich auch an.

Die Hausregeln sind an der Tür zum Tageszentrum plakatiert.
Foto: derStandard.at/mob

Der Geruch von abgestandenem Rauch und Alkohol hängt auch im Nichtraucherbereich in der Luft. Der Konsum von Alkohol ist im "jedmayer" aber genauso strikt untersagt wie der von Drogen. Ebenso stehen Dealen und jede Form von Gewalt auf der schwarzen Liste. Wer sich nicht an diese Regeln hält, bekommt Hausverbot – manchmal auch für mehrere Wochen.

Bezahlte Tätigkeit in der Wäscherei

Einen Stock höher gibt es die Möglichkeit, kostenlos zu duschen, WC-Anlagen zu benutzen und Kleidung zu waschen. In Schichten von dreieinhalb Stunden arbeiten einige Klienten im Betrieb der Wäscherei mit. Als Entlohnung für die Tätigkeit gibt es kostenlose Verpflegung und eine Aufwandsentschädigung.

Die hauseigene Wäscherei dient für manche als Arbeitsplatz.
Foto: derStandard.at/mob

Durch die Einbindung in das Tagesgeschehen sollen die Klienten in sinnvolle Tagesstrukturen eingegliedert werden und lernen, wieder mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. "In Zukunft wollen wir den Ausbau solcher Projekte forcieren, denn viele Klienten leiden unter ihrer Beschäftigungslosigkeit", erzählt Putre. "So ein Tag ist halt lang und viele würden gerne etwas Nützliches machen."

Kino, Bowling, Fotokurs

An drei Tagen der Woche können die Klienten auch an Freizeitangeboten teilnehmen. Diese reichen von Aktivitäten im Haus über Kinobesuche und Bowling bis hin zu Kreativ-Workshops. An diesem Nachmittag findet in einem Gruppenraum ein Fotokurs statt. Sozialarbeiter Bernd erklärt, was es mit Bild- und Persönlichkeitsrechten auf sich hat. Auch Tipps, wie man gute Fotos macht, gibt er zum Besten.

An drei Tagen pro Woche stehen Workshops am Programm.
Foto: derStandard.at/mob

Der Sozialarbeiter hat Einwegkameras für die Klienten mitgebracht. Bevor er sie an die neun Teilnehmer des Workshops verteilt, beschreibt er noch kurz die recht offene Aufgabe: "Ihr sucht euch ein spezielles Thema und macht dann einfach Bilder dazu." Ob es schon Ideen gebe, will Bernd danach wissen. Nach anfänglichem Zögern sagt einer der Teilnehmer: "Ich möchte etwas über Gothic machen." Da würden sich schwarz-weiß Bilder super eignen, meint Bernd und kramt aus einer Schachtel eine passende Kamera hervor.

Westbahnhof und Kiewara

"Ich geh zum Westbahnhof fotografieren", plaudert ein anderer Teilnehmer dazwischen und fragt, ob er auch "Kiewara" abbilden dürfe. Bei dem Thema werden die anderen hellhörig. Es folgen ein paar Bemerkungen und Schmähs über Erfahrungen mit der Polizei und schließlich der Hinweis von Bernd, sich vielleicht doch andere Motive zu suchen. Auf jeden Fall sollen die Kameras bis Ende der Woche wieder zurück sein. Danach werden die Fotos ausgearbeitet und eventuell im Rahmen einer Vernissage präsentiert.

Mit Wegwerfkameras sollen die Klienten ein spezielles Thema bebildern.
Foto: derStandard.at/mob

Der Foto-Workshop soll dem "jedmayer" damit auch einen direkten Nutzen bringen, denn die meisten Wände in der Einrichtung sind noch ziemlich kahl. Wenn die Klienten ihre eigenen Fotos beisteuern, könne das dazu beitragen, dass sie sich hier auch wohler fühlen, mutmaßt Sozialarbeiter Bernd. Auch Margit Putre ist überzeugt, dass durch die Bilder noch mehr Lebendigkeit in den Räumlichkeiten Einzug hält.

Gegen soziale Ausgrenzung

Mit dem Angebot im "jedmayer" will man besonders der sozialen Ausgrenzung der Suchtkranken begegnen und ihnen bei der beruflichen und sozialen Integration helfen. Dabei stehe nicht im Vordergrund clean zu werden, sondern durch eine Akzeptanz der Sucht, Vertrauen zu den Klienten aufzubauen, sagt Margit Putre. Daher gibt es im Ambulatorium der Einrichtung auch ein Substitutionsprogramm.

Sozialarbeiter des "jedmayer" sind auch in der Umgebung im Einsatz.
Foto: derStandard.at/mob

Für eventuelle Beschwerden von Anrainern ist man im "jedmayer" ebenfalls gerüstet. So wurde eine Hotline eingerichtet, die vor allem zu Beginn von Bewohnern des Grätzels genutzt wurde. "Natürlich gibt es in Bezug auf eine derartige Einrichtung Ängste und Verunsicherung", sagt Putre. Genau deshalb kümmere man sich auch darum, Bewusstsein zu schaffen und aufzuklären. Denn nur so könne das Klima für ein sozialverträgliches Nebeneinander geschaffen werden. Zusätzlich werden im unmittelbaren Umfeld des "jedmayer" auch Sozialarbeiter eingesetzt. Außerdem gibt es für die Betreiber und Mitarbeiter von Geschäften in der Gegend eigene Ansprechpersonen, falls es zu Problemen kommt.

Polizei soll präsent sein

Mit der Exekutive steht die Einrichtung im engen Kontakt, es gibt laufend Vernetzungstreffen. "Wir wollen, dass die Polizei präsent ist, weil wir keine Szene vor dem Haus brauchen", sagt Putre. Auch in Notfällen wie etwa bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Besuchern würden die Mitarbeiter des "jedmayer" klarerweise die Polizei rufen.

Zum Thema Konsumräume für Suchtkranke, wie sie bereits in Hamburg, Berlin oder Zürich existieren, will sich Putre nicht äußern. Das sei eine politische Entscheidung. Für Putre selbst steht die akute Krisenintervention im Vordergrund: "Viele Klienten müssen sich erst einmal eingestehen, dass sie es selbst nicht mehr auf die Reihe bekommen und sich an uns wenden können. Vor allem Obdachlosigkeit ist ein Riesentrauma, das die gesamte Lebenssituation dramatisch verschärft." (Elisabeth Mittendorfer, Martin Obermayr, derStandard.at, 18.3.2013)