Moshe Jahoda vor der ehemaligen Turnhalle in der Herklotzgasse 21: "Es war immer ein höchst angenehmes Zusammentreffen, mit der Illusion verbunden, dass man sich hier sicher fühlen kann."

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STANDARD: Die Herklotzgasse 21 im 15. Bezirk gehörte zum "Dreieck Ihrer Kindheit", wie Sie in Ihrem Buch schrieben – was fällt Ihnen spontan dazu ein?

Jahoda: Wir haben im Turnertempel ein großes Zuhause gehabt, mit einem Kinder- und einem Jugendchor, wo ich auch gesungen habe. Und wo man sich immer zu den Feiertagen oder Freitagabend vor Sabbath getroffen hat. Es war ein höchst angenehmes Zusammentreffen, und in diesen Jahren mit einer gewissen Illusion verbunden, dass man sich hier sicher fühlen kann und dass man von  der österreichischen Regierung irgendwie verteidigt wird.

Aber es war nur eine Illusion, hat sich später herausgestellt. In diesem Haus in der Herklotzgasse waren viele kulturelle jüdische Aktivitäten, wir haben einen wunderbaren Kindergarten gehabt, Turnverein, Theater. Und es hat eine religiöse Schule gegeben in der Storchengasse, dort habe ich gelernt, Hebräisch zu lesen.

STANDARD: Die Nazis haben den Turnertempel 1938 angezündet. Sie fuhren mit der Straßenbahn an der brennenden Synagoge vorbei. Was empfanden Sie?

Jahoda: Ja, ich bin ausgestiegen an der Station, die heute dort noch existiert, und bin gegangen Richtung Turnergasse, und da habe ich schon den Rauch und das Feuer gesehen. Ich habe sofort verstanden, obwohl ich noch ein Kind war, dass dies ein sogenannter  deutscher Racheakt war für einen Konsul, der in Frankreich ermordet wurde.

In meinem Kopf ist das Folgende vorgegangen: Gott wird das nicht verzeihen und vergeben, dass man seine Gebetsstätte niederbrennt. Und eines schönen Tages wird das vielleicht gut gestellt. Die Wahrheit ist, dass es mehr als fünf Jahre gedauert hat, bis irgendein Zeichen vom Himmel gekommen ist.

STANDARD: Welchen Verfolgungen waren Sie und Ihre Familie ausgesetzt?

Jahoda: Wir haben zwei Blöcke von hier, in der Geibelgasse, Ecke Herklotzgasse, gewohnt. Wir wurden von unserem Haus entfernt und in eine jüdische Zwangswohnung, wo schon eine jüdische Familie gewohnt hat, hineingepfercht. Es war ein schlimmes Erlebnis, dass man dort, wo man geboren worden ist, rausgeschmissen und mit Gewalt in eine andere Wohnung gezwungen wurde.

STANDARD: Wieso haben Sie damals als Zwölfjähriger so klar gesehen, was viele Erwachsenen nicht gesehen haben? Dass es nur eine Möglichkeit gibt: Weg aus diesem Land.

Jahoda: Ich kann das nicht genau erklären. Der Gedanke ist mir immer gekommen als Kind, dass hier eine schwere grausame Vernichtung bevorsteht. Wenn man sich im Radio die Reden von Hitler angehört hat und wenn man das ein bisschen verstanden hat, da waren überhaupt keine Zweifel, was er wirklich gemeint hat.

Außerdem: Sofort nach dem Anschluss wurden Juden verhaftet und hingerichtet. Zwei Nachbarn wurden nach Dachau geschickt, das war damals das Konzentrationslager, wohin österreichische Juden geschickt worden sind, und nach einiger Zeit haben die Ehefrauen einen kleinen Topf von den Nazis bekommen, mit der Asche ihrer Männer, die verbrannt worden sind in Dachau.

STANDARD: Sie haben durch den Verlust Ihrer Familie ein massives Trauma erfahren. Hat Ihnen jemals jemand geholfen, damit fertig zu werden?

Jahoda: Die Einstellung in Palästina damals war ganz anders als heute. Du bist angekommen hier als Kind. Lebe dich ein. Lebe unser Leben. Und mach mit, wo du  kannst und sollst. So war ich sehr beschäftigt, mit vielen anderen  eine neue Welt für uns zu schaffen. Das hat mich etwas beruhigt. Aber in meinen Nächten habe ich  mich sehr damit beschäftigt.

Ich habe nie aufgehört, von meiner Schwester, Vater und Mutter zu träumen. Eines Tages, nach Kriegsende, habe ich einen Brief aus der Herklotzgasse 13 bekommen, von einer lieben Nachbarin, Frau Hauser. Die hat mir geschrieben: Hansi, habe keine Illusionen, wenn deine Eltern und Gerti am Leben wären, hätten sie sich sofort mit mir verbunden. Sie sind nicht mehr am Leben.

STANDARD: Haben Sie Wien und die Wiener gehasst?

Jahoda: Ich habe eine gewisse ambivalente Einstellung Wien gegenüber gehabt. Ich habe in Wien als Kind glückliche Stunden erlebt. Und ich habe in Wien gute und liebe Menschen erlebt. Ich habe aber auch viel Hass empfangen, von Mitschülern und von Lehrern, die auf ihren Jacketts innen das Hakenkreuz gehabt haben. Am Tag, nachdem Hitler gekommen ist, haben sie das umgedreht, und das Hakenkreuz ist rausgekommen. Nicht alle waren freundlich und hatten Mitgefühl mit Kindern, die sich von Geburt an in Österreich zu Hause gefühlt und geglaubt haben, dass es ihr Land ist.

STANDARD: Sie bezeichnen sich selbst als "stolzen Juden". Sie wollten den Österreichern ihre Verantwortung vor Augen führen. Finden Sie, dass sich in den letzten Jahren diesbezüglich etwas verändert hat?

Jahoda: Ich hatte nicht die Möglichkeit zu bemessen, was in Österreich in den vergangenen Jahren richtig oder falsch war. Mir ist nie klar geworden, warum sich das österreichische Volk verpflichtet gefühlt hat, 230.000 österreichische Soldaten für Hitler zu opfern, 40.000 Zivilisten bei Luftangriffen und dazu noch 70.000 bis 80.000 Juden, die vergast und hingerichtet wurden in Konzentrationslagern.

Warum Österreicher mit so einer Begeisterung den selbsternannten Führer empfangen haben und bereit waren zu opfern, was hat das Österreich gebracht? Das war mir nie klar und ist mir nicht klar bis heute. Sehr beeindruckt hat mich, als ich nach Jahren bemerkt habe, dass es eine etwas andere Jugend gibt als damals.

STANDARD: In einer Standard-Umfrage sagten 42 Prozent, unter Hitler sei nicht alles schlecht gewesen, sechs von zehn wünschten sich einen starken Mann an der Spitze – wobei nicht explizit Hitler gemeint war. Was sagen Sie dazu ?

Jahoda: Ich habe das auf meine persönliche Art und Weise interpretiert. Das passiert in jedem demokratischen Land und hat nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, dass die Bevölkerung etwas müde wird vom Blablabla der Politiker und allen möglichen Versprechungen, die nicht eingehalten werden. Das gibt es überall, nicht nur in Österreich. Wenn man assoziativ denkt, erinnert der "starke Mann" selbstverständlich an Hitler.

Ich habe viel über Hitler gelesen. Er ist für mich eine sehr interessante, krankhafte Persönlichkeit gewesen, Anwälte bei den Nürnberger Prozessen sagten sogar, unbewiesen, er hätte eine unbekannte Großmutter mit jüdischem Blut gehabt. Vielleicht war es ein Racheakt, ich weiß es nicht. Aber so eine Kreatur, die sich erlaubt, Millionen zu schlachten und Befehle zu geben, Millionen hinzurichten, das hätte in der menschlichen Geschichte nicht vorkommen sollen.

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass die extreme Rechte in Österreich und Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Staaten so einen Zulauf hat – gerade durch jüngere Männer?

Jahoda: Ich kann es nicht genau beurteilen. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Wenn diejenigen, die auf Friedhöfe gehen und Grabstätten zerhacken und zerstören – wenn die sich als Helden betrachten ... das sind nur Verrückte. Wenn du ein Held bist, geh und kämpfe mit offenen Waffen gegen deinen Feind und nicht hinter seinem Rücken in der Nacht. Ich habe nichts dagegen, mit solchen Leuten zu diskutieren und ihnen das zu erklären. Aber es gibt auch andere, die das nicht akzeptieren und bereit sind, dagegen zu kämpfen – das ist wichtig und positiv. Das soll man im Auge behalten. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 16./17.3.2013)