"Fucking get out", schreit der Trainer des Shelbourne FC seine Mannschaft in der ersten Halbzeit nach vorne. Es ist der Sonntag zwischen dem irischen Auswärtsspiel in Schweden und dem Gastspiel der Österreicher in Dublin. Im Tolka Park steigt ein Dublin-Derby zwischen dem bisher punktelosen Shelbourne und Titelanwärter Shamrock Rovers. Eine der ältesten Rivalitäten im irischen Fußball hat bei klirrender Kälte 1.704 Zuseher angelockt. Für Shelbourne ist das guter Besuch, ansonsten entspricht es etwa dem Ligaschnitt.

Über diese Zahlen lacht in Österreich selbst Wiener Neustadt. Bei schönem Wetter wären vielleicht ein paar mehr gekommen. Aber noch am Vortag wurde in Dublin ein anderes Derby zwischen St. Patrick's Athletic und den Bohemians wegen Sintflut abgesagt. Im Anflug auf Irland konnte man die nahe gelegene Isle of Man komplett eingeschneit sehen. Um derartige Wetterbedingungen zu vermeiden, stellte Irland 2003 eigentlich auf eine Ganzjahresmeisterschaft um. Die Natur spielt bei solchen Gedankengängen nicht immer mit.

"Riverside Stand" (links) und "Drumcondra Stand" sind für die Auswärts-Fans und den Heim-Fanklub reserviert. Dazwischen fliegt schon mal ein Ball aus dem Stadion.
Foto: Tom Schaffer

Der Tolka Park ist an diesem Sonntag zum ersten Mal seit dem letzten Shelbourne-Meistertitel 2006 wieder Schauplatz eines Livespiels im Fernsehen (nur ein Spiel pro Woche wird übertragen). Vor etwas mehr als 20 Jahren war er sogar Austragungsstätte zweier Nationalspiele. So, wie er sich jetzt präsentiert, wäre das kaum zu vermuten. 9.600 Plätze bietet er, hauptsächlich Sitzplätze. Es ist das größte Stadion der League of Ireland – normalerweise zumindest. Der frisch aufgestiegene Limerick FC spielt nämlich derzeit in seinem örtlichen Rugby-Stadion mit 26.000 Plätzen, bis der eigene Platz renoviert ist. Aber das sind ohnehin alles nur theoretische Zahlen.

Der Charme des Tolka Parks an der Richmond Road in Norddublin liegt etwa auf einer Ebene mit dem Wiener Sportclub-Platz. Als Journalist meldet man sich an einer kleinen braunen Tür mit unscheinbarer Klingel an, ein älterer Herr öffnet etwas skeptisch und empfängt seltene Gäste aus dem Ausland. Die Handvoll örtlicher Berichterstatter ist noch auf Holzbänken hinter dem Platzsprecher untergebracht.

Die markante und dunkle Haupttribüne hat ein gewölbtes Blechdach, das anscheinend vor allem vom Rost zusammengehalten wird.
Foto: Tom Schaffer

Die Sitze für das restliche Publikum sind nicht überall überdacht und nicht mehr allerorts intakt. Dem gewölbten Blechdach der Haupttribüne sieht man das Alter schon auf Google Maps an. Sitzt man auf ihr, sieht man von dort aus zu seiner Linken eine leere und unüberdachte Sitzplatztribüne. Das "Ballybough End" ist verwaist und gilt nicht mehr als sicher. Gegenüber der Hauptribüne sind wie immer die Auswärtsfans untergebracht. Die Shamrock-Ultras am "Riverside Stand" sind zahlenmäßig dem Shelbourne-Fanklub auf der neuen Tribüne rechts deutlich überlegen.

Deren "Drumcondra Stand" hat der Shelbourne FC nach dem Meistertitel 2003 hingestellt. Shelbourne rechnete nach dem Meistertitel einfach fix mit dem Champions-League-Einzug und dazugehörigen Einnahmen, scheiterte aber an Deportivo La Coruna und ging praktisch pleite. Ein für Ligavereine durchaus nicht untypischer Anfall von Übermut, wie mir Niall Farrell, ein irischer Fußballjournalist, verrät. Das Stadion wurde verkauft, seine Zukunft ist seither umstritten und ungewiss. Shelbourne will umziehen. 2007 spielte man wegen der anhaltenden Finanzprobleme als irischer Meister in der zweiten Liga.

Wie man darauf kam, mit der Champions League zu rechnen, ist schwer nachzuvollziehen. Die League of Ireland ist in der UEFA-Rangliste derzeit nur 33., wird im kommenden Jahr aber noch drei Plätze zurückrutschen. Für die Klubs ist oft schon in der ersten Runde der Europa-League-Qualifikation gegen litauische und bosnische Vereine Schluss. Den größten Erfolg des irischen Klubfußballs verzeichnete erst 2011/12 Shamrock, das in die Gruppenphase der Europa League einzog. Mit einem Torverhältnis von 4:19 und null Punkten flog man als Negativrekordler allerdings wieder raus. Nur St. Patrick's Athletic schaffte es im aktuellen Jahr in die dritte Quali-Runde, um dort an Hannover 96 zu scheitern.


Das Match ist dank des Hauruck-Stils von Shelbourne temporeich und spannend, aber eher von bescheidener Qualität.
Foto: Tom Schaffer

Das Derby im Tolka Park, der 1987 auch für kurze Zeit die Heimat der Shamrock Rovers war, liefert Hinweise auf die Ursachen. Das Tempo ist enorm hoch, die physische Komponente durchaus heftig, aber die technischen Fähigkeiten der Spieler halten keineswegs mit. "Stop hoofing the ball! Pass! Pass!", wünscht sich ein Fan lautstark in einer Phase, als der Shelbourne-Trainer seine Spieler dezent zu noch mehr Einsatz aufruft: "Chase the fucking ball!" Seine Mannschaft dürfte diesmal ein Abstiegskandidat sein, dementsprechend sei es nicht ganz fair, die Liga danach zu beurteilen, sagt Farrell.

Kein Wunder ist angesichts der Sachlage jedenfalls, dass die League of Ireland keine echte Profiliga ist. Seit 2012 spielt man zu zwölft. Die zweite Liga war so unattraktiv, da hat man die erste aufgestockt – in der zweiten spielen jetzt nur acht Teams. Absurd. Und in der ersten ging nach wenigen Wochen ein Team pleite und man spielte die Saison zu elft fertig. Der semiprofessionelle Status betrifft nicht nur das Team des University College Dublin AFC, das einzige College-Team in einer westeuropäischen Einserliga. "Auch bei Shelbourne verdient man vielleicht 200 bis 300 Euro pro Woche", sagt Farrell. Darüber sollten, zumindest rein theoretisch, sogar österreichische Zweitligaklubs liegen.

Da ist es auch erklärbar, dass aufstrebende Spieler kaum zu halten sind. Und weil Verträge selten über einen längeren Zeitraum als ein Jahr abgeschlossen werden, sehen die Klubs bei Abgängen praktisch auch nie Geld. Ein großes Talent, das kaum über die Saison hinaus in der Leage of Ireland zu sehen sein wird, ist St.-Patrick's-Angreifer Chris Forrester. Der 20-Jährige empfiehlt sich mit solchen Toren für höhere Aufgaben, soll zum Beispiel bei Everton auf der Einkaufsliste stehen. Im Tolka Park fällt vor allem Niall Burdon, der junge irisch-französische Keeper von Shelbourne, mit einer herausragenden Leistung auf.

Für Shelbourne ist Shamrock der größte Rivale. Eine Haltung, die auf der anderen Seite nicht ganz geteilt wird. Die Rovers-Fans bezeichnen eher die Bohemians als Lieblingsgegner.
Foto: Tom Schaffer

Dabei war es schon schlimmer. "Je nachdem, wen man fragt, ist die Liga entweder kaputt oder im Kommen", erklärt mir Farrell. Die Zuschauerzahlen seien sogar gestiegen. Insbesondere Meister Sligo Rovers hat gerne einmal drei- bis viertausend Leute im Stadion. Das weist auf ein paar irische Besonderheiten hin: In Sligo, der Stadt im Nordwesten des Landes, gibt es wenig Konkurrenz anderer Sportarten. Rugby und Gaelic Football werden hier nur unterklassig gespielt, da konnten sich die Rovers mit guter Communityarbeit eine Basis erarbeiten. In anderen Städten steht der Klubfußball im Schatten.

Auch in Dublin, wo einen sprichwörtlichen Steinwurf vom charmant-modrigen Tolka Park entfernt der "Croker" steht. So nennen die Dubliner ihren Croke Park. Der ist ein beeindruckendes Stadion für 82.000 Zuschauer, in dem Gaelic Football und Hurling wie im ganzen Land vor begeisterten Massen gespielt werden – wohlgemerkt auf Amateurbasis. Bei einer Führung durchs Stadion erfährt man nicht nur einiges über die Landesgeschichte, sondern darf auch ein bisschen Hurling spielen.

Der Croker hat mit Fußball (fast) nichts zu tun. Er findet dort nicht statt, weil das Stadion dem gälischen Sportverband GAA gehört. Der hat sich der Bewahrung von "echt irischen" Sportarten verschrieben. Der Fußball gilt ihm als Fremdeinfluss. Nur als das heutige Aviva-Stadion, der fesche Schauplatz der Fußball-WM-Qualifikationspiele, vor einigen Jahren komplett neu gebaut wurde, erlaubte die GAA dem Nationalteam, im Croker zu gastieren. Das war ein nicht unumstrittener Tabubruch.

Der ausverkaufte Croke Park im Jahr 2004 beim All Ireland Football Final (aufgenommen von John Nolan).
Foto: John Nolan / Wikipedia

"Wenn ich das zugebe, wissen die Leute manchmal gar nicht, was ich da rede", gesteht mir Farrell seine Zuneigung zur eigenen Liga. Er freut sich deshalb auch über eine weitere Entwicklung: Im Nationalteam spielen zwar wie seit Jahren ausschließlich Spieler, die in England engagiert sind (deshalb läuft die irische Liga auch ohne Unterbrechung weiter), aber immerhin könnten zum Beispiel gegen Österreich bis zu sechs Spieler auflaufen, die zumindest einmal in der League of Ireland gespielt haben.

Ein möglicher Ersatz für den verletzten Robbie Keane wäre etwa der offensive Feinmotoriker Wes Hoolahan von Norwich. Der 30-Jährige, der einst im Tolka Park für Shelbourne geigte, hatte bisher keine große Karriere im Nationalteam, weil sein Spielstil nicht dem eher rustikalen von Giovanni Trapattoni und früheren Trainern entspricht.

Schon lange basierten Erfolgsmannschaften (und mit drei WM- und zwei EM-Teilnahmen seit 1990 muss sich Irland durchaus nicht verstecken) eher auf Einbürgerungen von Briten mit irischen Großmüttern als auf Nachwuchsarbeit. Der bisher erfolgreichste irische Teamchef, der Engländer Jack Charlton (EM '88, WMs '90 und '94) hob mittels geschickter Einbürgerungspolitik den irischen Fußball aus seinem schlimmsten Leiden.

Das Spiel zwischen Shelbourne und Shamrock endet mit 0:0, weil der Heim-Keeper drei sensationelle Paraden zeigt und der etwas übergewichtige Heim-Stürmer das leere Tor sensationell verfehlt. Die Shelbourne-Fans feiern daraufhin ihr Team für den ersten Punktgewinn der einige Wochen alten Saison.

Der Jubel ist groß: Shelbourne hat nach Cup-Aus und miesem Meisterschaftsstart seinen ersten Punkt 2013.
Foto: Tom Schaffer

Bei einem Bier erklärt mir Farrell: "Fußball ist in Irland durchaus Volkssport, wie man auch am Interesse für das Nationalteam erkennen kann." Die glorreichen Gesänge der tausenden mitgereisten Fans bei der sportlich glanzlosen EM 2012 hat wohl noch jeder in Erinnerung. Nur: "Die eigene Liga und Fußball, das nehmen die Leute ein bisschen wie zwei Sportarten wahr."

Lieber als ins örtliche Stadion begibt man sich am Wochenende woandershin. Tausende Iren pilgern mit dem Flugzeug oder auch mit der Fähre zu Spielen ihrer liebsten Teams: Liverpool, Manchester United und vor allem Celtic Glasgow. "Celtic gilt fast schon als irisches Team", sagt Farrell, der das Selbstlob (und das von UEFA-Boss Michel Platini) der Iren als "beste Fans der Welt" mit ihrem mangelnden Interesse für die eigene Liga etwas relativiert.

Wie lange Shelbourne noch im Tolka Park spielt und was sonst mit ihm passiert, ist unklar.
Foto: Tom Schaffer

Als Fußball-Tourist lässt sich das ganze Spektakel durchaus romantisieren und unterhaltsam finden: Die aufgeregte, aber nicht bösartige Atmosphäre, das urig heruntergekommene Stadion und der spektakulär unterdurchschnittliche Kick haben etwas für sich. Ein Besuch im Tolka Park, wo zwischendurch schon einmal ein verirrter Schuss im Verpflegungsstandl hinter dem Tor landet, ist für Groundhopper durchaus kein Fehler, wenn sie gerade in der Nähe sind. (Tom Schaffer aus Dublin, derStandard.at, 25.3.2013)