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In Indien tobt ein Kulturkampf um die Rolle der Frau. In manchen Teilen der Gesellschaft ist das Bild noch frauenfeindlicher als in Afghanistan, meinen Analytiker.

Foto: AP/Rajesh Kumar Singh

Wieder hat Indien traurige Schlagzeilen gemacht. Diesmal mit Überfällen auf eine Schweizerin und eine Britin. Im Westen, der lange diese Schattenseiten Indiens übersah, ist man schockiert. Dabei ist Gewalt gegen Frauen kein neues Phänomen, sondern so verbreitet, dass einige lokale Medien bereits zynisch von einem "nationalen Volkssport" sprechen.

Objekte kann man wegwerfen

Die Wurzeln liegen im mittelalterlichen Frauenbild: Viele Männer sähen Frauen nicht als Menschen, sondern als Objekte an, meint der Psychoanalytiker Sudhir Kakar. Objekte kann man benutzen. Man kann sie kaputtmachen. Man kann sie wegwerfen. Dieser Dreiklang an Entmenschlichung spiegelte sich in der Schreckenstat vom Dezember wider, als sechs Männer eine 23-jährige Studentin brutal vergewaltigten und wie Müll auf die Straße warfen. Tage später starb die junge Frau an ihren schweren inneren Verletzungen.

Beispiellose Protestwelle ausgelöst

All das geschah nicht auf dem Land, sondern in der Metropole Delhi, die als relativ modern gilt. Deshalb hat die Tat, obwohl nicht beispiellos, eine beispiellose Protestwelle ausgelöst. An der Spitze standen Studenten. Gemeinsam trotzten junge Männer und Frauen Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas. Väter kamen mit ihren Söhnen. Großmütter rollten in Rollstühlen zu den Protesten.

In Indien tobt ein Kulturkampf. Es geht um die Frage: Nach welchem Wertesystem will das Land leben? Es wäre falsch, Indien zu verteufeln. Indien ist nicht ein Land. Es ist viele Länder. In vielem ist es dem Westen voraus. Inder beten zu Göttinnen. Bereits in den 1960er-Jahren gab es eine Regierungschefin. Frauen arbeiten als Ärztinnen, Anwältinnen, Pilotinnen. Den wichtigsten Botschafterposten, den in den USA, hat Indien mit einer Frau besetzt.

Gewalt als kulturelles Problem

Doch umgekehrt leben Abermillionen Inderinnen wie Sklavinnen. Teile der Gesellschaft sind bis heute einem Frauenbild verhaftet, das genauso frauenfeindlich, einige Analysten meinen sogar noch frauenfeindlicher ist als das in Afghanistan. Der Westen irrt daher, wenn er Gewalt gegen Frauen vor allem als Problem islamischer Gesellschaften verortet. Es ist ein kulturelles Problem. Nirgends lässt sich dies besser beobachten als in Südasien. Vergewaltigungen, Ehrenmorde, Säureattacken, Zwangs- und Kinderehen durchziehen alle Religionen: Hindus, Muslime, Sikhs, Buddhisten, Christen usw.

Vor allem im Hindu-Gürtel im Norden gilt Gewalt gegen Frauen als endemisch. Das Weib sei dem Manne untertan, wurde ein Satz in der Bibel übersetzt. Nichts anderes schreibt der Hindu-Wertekatalog fest: Der Mann ist alles, die Frau ist nichts. Hunderttausende Mädchen werden jedes Jahr abgetrieben, weil sie als Bürde gelten. Als Folge herrscht in vielen Regionen dramatischer Männerüberschuss, dessen soziale Sprengkraft kaum vorhersehbar ist.

Festigung der männlichen Machtposition

Von klein auf wird Frauen eingebläut, dass es ihre Pflicht ist, sich für den Mann zu opfern. Die Eltern der Braut müssen hohe Mitgift zahlen, um die Wertlosigkeit des Mädchens aufzuwiegen. Auf Anerkennung können sie nur hoffen, wenn sie einen Stammhalter gebären. Söhne werden vergöttert. Am Ende stehen oft Männer, die Frauen als Dienerinnen, Eigentum und Freiwild sehen - und das Wort Nein nicht kennen.

Vergewaltigung, vor allem im Kollektiv, ist eine Waffe, um die männliche Machtposition zu festigen. Zwar gibt es keine sicheren Zahlen, aber es scheint, dass gerade Gruppenvergewaltigungen zunehmen.

Stigmatisierung der Opfer

Viele Analysten sehen dies vor dem Hintergrund, dass immer mehr Frauen versuchen, aus alten Rollenzwängen auszubrechen. Indien hat daher kein Frauenproblem - es hat ein Männerproblem. So krank ist das Frauenbild, dass Tätern oft jedes Schuldbewusstsein fehlt, selbst wenn sie ihr Opfer töten. Zudem kommen die meisten ungeschoren davon, weil die Gesellschaft meist die Täter deckt und die Opfer stigmatisiert.

Ungeduldig fragt der Westen, wann die Vergewaltigungen endlich aufhören. Dabei hat es auch im Westen Jahrzehnte, eher Jahrhunderte gedauert, bis sich etwas änderte. Und Patentrezepte fehlen. Aber der zähe Kampf um ein neues Frauenbild, das haben die Proteste gezeigt, hat begonnen. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 23./24.3.2013)