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Das feine Gitter dieses Stents wird verschlossene Gefäße rund ums Herz offen halten.
Lausanne, Sommer 1986. Auf einem Herzmediziner-Kongress weitet ein renommierter Kardiologe aus den USA die Koronararterie einer Patientin. Doch wenige Minuten nach der Präsentations-OP ist das Gefäß wieder verschlossen. Die Blutversorgung des Herzes gerät ins Stocken: Lebensgefahr. Notfallmäßig will ein Chirurg einen Bypass legen. Da tritt Ulrich Sigwart an den OP-Tisch und schlägt vor, eine neue, von ihm entwickelte Methode anzuwenden. "Ich gebe Ihnen fünf Minuten", sagt der Chirurg widerwillig. Sigwart schiebt ein feines Metallgitterröhrchen durch einen Katheter bis in das betroffene Herzkranzgefäß hinauf: einen Stent. Der soll die Arterie weiten und stabilisieren. Prompt fließt das Blut wieder normal - die Patientin kann am Tag darauf das Spital verlassen.
"Der Kongress brachte den Durchbruch für die Stent-Methode", erzählt Sigwart. Eine Revolution bahnte sich an: Bisher musste man Patienten mit einer Stenose (stark verengte Arterie, Anm.) im Herzkranzbereich den Brustkorb aufsägen, das betroffene Blutgefäß herausschneiden und ein gesundes einpflanzen. Jetzt genügte statt einer solchen Bypass-OP oft ein winziger Schnitt im Leistenbereich, durch den ein feiner Schlauch (Katheter) eingeführt wurde, und ein Zauberröhrchen.
Stent-Inflation
Noch heute verblüfft Sigwart, wie schnell die Stents ein Welterfolg wurden: Bei seinen ersten Experimenten in den 1980er-Jahren stellte sich das Ethik-Komitee noch quer. "Und heute pflanzen viele Ärzte solche Röhrchen so routinemäßig ein, wie Fahrradmechaniker ein Loch im Reifen flicken." Sigwart schrieb Medizingeschichte. Doch die jüngsten Entwicklungen beobachtete er mit Sorge. "Einem Patienten haben Ärzte insgesamt 67 Stents eingepflanzt", erzählt er. "Manchen Medizinern ist offensichtlich nicht mehr bewusst, dass diese Implantate Fremdkörper sind. Fremdkörper, die im Organismus auch unerwünschte Reaktionen auslösen können."
Ulrich Sigwart, 71, wuchs im Schwarzwald auf. Um sein Medizinstudium zu finanzieren, jobbte er als Lastwagenfahrer. Dass er sich auf das Herz spezialisieren würde, wurde ihm bald klar. "Die meisten Organe kann man nur mithilfe eines Mikroskops untersuchen", sagt er. "Beim Herz hingegen spürt jeder physisch, wie es schlägt. Da ist einiges los."
Er forschte und operierte in Norddeutschland, Zürich, London, Lausanne, Boston und Genf. Nebenbei baute er das Herz-Notfalltaxi der Romandie auf. 2001 wurde er Leiter der Kardiologie-Abteilung der Universitätsklinik Genf und Universitätsprofessor. Nach der Emeritierung eröffnete er eine Privatpraxis. Gemeinsam mit seiner Frau rief er eine Stiftung ins Leben, die Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen Musik näherbringt. Noch immer implantiert er regelmäßig Stents. Und Hobbypilot ist der fünffache Großvater auch. "Zu Hause herumsitzen lag mir nie."
Gut oder Gift
Gelten Ruhelosigkeit und Stress nicht als Gift fürs Herz? Sigwart lächelt. "Ein bisschen Stress kann sogar gesund sein", sagt er: Die meisten Psychologen unterscheiden mittlerweile zwischen gewöhnlichem Stress und "Strain". Problematisch sei in der Regel nur letztere Variante, bei der zur großen Arbeitsbelastung auch noch Frustration und Versagensängste hinzukommen: "Erst kombiniert mit mangelndem Selbstvertrauen wird hoher Leistungsdruck zu einer Gefahr für das Herz."
Eine weitere verbreitete Angst sei hingegen völlig gerechtfertigt. "Hohe Cholesterinwerte im Blut erhöhen das Herzinfarktrisiko ganz eindeutig", sagt er. Gerade diese fettähnliche Substanz bewirke nämlich oft Ablagerungen in den Blutgefäßen, die zu Stenosen führen können. Weitere Risikofaktoren: Rauchen, Übergewicht, zu wenig Bewegung und hoher Blutdruck. Manche Patienten vermuten auch, dass ihnen Trauer "das Herz gebrochen" habe. Und Sigwart hält solche Fälle für plausibel. "Ich bin kein Esoteriker", sagt er. "Aber dass das Herz auf Emotionen reagieren kann, kennt jeder: etwa wenn es bei Vorfreude schneller zu schlagen beginnt." Wieso also sollte Trauer keine Auswirkungen haben?
Später öffnet der Mediziner die Schublade eines Biedermeierschranks in seinem gemütlichen Wohnzimmer und zieht ein Drahtgitterröhrchen heraus. Es erinnert an die Spiralfeder aus einem Kugelschreiber. "Etwa so sahen Mitte der 1980er-Jahre die ersten Stents aus", erzählt er. Eine dünne Membran schnürte sie zu einem winzigen Knäuel zusammen: Löste man diese Schutzhülle mithilfe von unter Druck stehender Flüssigkeit, so entfaltete sich der Stent automatisch. "Es war nicht ganz einfach", erzählt Sigwart, "ich habe anfangs lange an Kunststoffpuppen geübt."
Eine Erfindung des Kardiologen Andreas Grüntzig leistete ihm bei der Entwicklung der Stents große Hilfe. In den 1970er-Jahren setzte Grüntzig am Kantonsspital Zürich erstmals einen Ballonkatheter (feiner Schlauch, der am Ende wie ein Ballon aufgepumpt wird, Anm.) ein, um verengte Blutgefäße zu öffnen. Sigwart erlernte Grüntzigs Methode - und erntete viel Kritik. "Ein Kollege drohte gar, mich zu verklagen, wenn ich diese gefährliche Technik weiter einsetze." Alle Operationen verliefen komplikationsfrei. Doch jeder dritte Patient musste bald erneut unters Messer, weil sich die Arterie wieder verschloss.
Sigwart beriet sich mit Experten der Firma Medinvent aus Lausanne, wie man mithilfe der Ballonkatheter-Methode geweitete Blutgefäße längerfristig stützen könnte. Die Produktdesigner schlugen ein feines Gitternetzröhrchen vor. Was folgte, klingt wie eine Szene aus einem Agententhriller: Mitten in der Nacht legte ein Kurier Sigwart einen Vertrag vor. "Ich habe blind unterschrieben", erzählt er. "Und die Firma sicherte sich alle Rechte an unserer gemeinsamen Idee." Die Designer wurden reich. "Ich wollte, dass ein solches Implantat entwickelt wird", sagt er. "Aber das mit dem Knebelvertrag hat mich später schon gefuchst."
Die Nebenwirkungen
Die Metallgitterröhrchen wurden immer populärer. Allerdings war die Begeisterung bereits in den 1990er-Jahren nicht mehr ungebrochen: Denn nicht selten kam es an Stents zu Entzündungen, oder es bildete sich um sie herum eine neue Stenose. Pharmafirmen entwickelten Spezial-Stents (DES), die Medikamente verströmen, um die Zellwucherung zu hemmen. Doch auch diese haben Nachteile. Überwächst ein implantierter Stent nämlich nicht, so können sich an ihm Blutgerinnsel bilden - das Herzinfarktrisiko steigt. "Man muss jeden Einzelfall sehr genau prüfen", sagt Sigwart: Bei großen Arterien und klar lokalisierbaren Verengungen empfiehlt er eher klassische Stents, bei kleineren Gefäßen und diffusen Ablagerungen eher DES.
Die jüngste Innovation sind Stents, die sich, nachdem sie ihren Dienst getan haben, auflösen. Die erhöhte Blutgerinnsel-Gefahr ist damit beseitigt. Die bisher getesteten Materialien führen jedoch zu Entzündungen. "Es gibt noch keinen wirklich überzeugenden Vorschlag", sagt Sigwart, "auch wenn uns das Firmen glauben machen wollen."
Für die Zukunft hat Sigwart vor allem einen Wunsch. "Die ständigen Grabenkämpfe in der Medizin müssen aufhören", sagt er. In London habe er in den 1990er-Jahren eine vorbildliche Atmosphäre erlebt. "Dort haben wir in der Klinik Seite an Seite gearbeitet." In der Schweiz hingegen seien Territorialdenken und Überspezialisierung ein großes Problem. Seine Forderung: "Alle jungen Ärzte, die sich später mit dem Herz beschäftigen wollen - egal ob als Kardiologen, Chirurgen, Radiologen oder Anästhesisten -, sollten künftig eine gemeinsame Basisausbildung erhalten."
Blöder Wettstreit Schließlich kommt Stent-Pionier Ulrich Sigwart noch einmal auf sein Spezialgebiet zurück. "Gerade bei Notfällen leisten Stents bis heute sehr gute Dienste", betont er. Und es sei viel billiger, ein solches Röhrchen zu setzen, als eine Bypass-Operation durchzuführen. Etwas aber bleibe beim Wettstreit zwischen Stent- und Bypass-Lobbyisten leider oft auf der Strecke: In vielen Fällen können auch Cholesterin-Blocker wie Statine und Aspirin, das die Bildung von Blutgerinnseln erschwert, helfen. "Es ist gut, dass es Stents gibt", sagt Sigwart, "aber es ist noch besser, wenn wir auf sie verzichten können." (Till Hein, DER STANDARD, 25.3.2013)