Alzheimererkrankungen beeinträchtigen das Gedächtnis dramatisch: Die Kontinuität im Erleben wird beeinträchtigt. Psychologen um Helmut Leder von der Universität Wien haben nun aber gezeigt, dass der ästhetische Sinn, also unser Gefallen für schöne Kunst oder Gesichter, auch bei fortgeschrittener Alzheimer-Erkrankung stabil bleibt. Die Forschungsergebnisse, die in Kooperation mit Dan Graham von den "Hobart and William Smith Colleges" (USA) entstanden sind, erscheinen aktuell im Fachmagazin "Frontiers in Psychology".

Alzheimer ist eine Erkrankung des Gedächtnisses, die sich auf eine Vielzahl kognitiver Fähigkeiten dramatisch auswirkt. Bis 2050 ist mit 115 Millionen Erkrankten weltweit zu rechnen. Angesichts dieser erschreckenden Zahl ist es wichtig, die Krankheit besser zu verstehen, um die Diagnose, besonders aber die Therapie zu optimieren.

Fertigkeiten der Gesichtsbeurteilung

Die Forschergruppe der Universität Wien hat Alzheimerpatienten in unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien untersucht. Dabei wurden den Betroffenen neben gemalten Landschaften und Porträts, dazu passende Fotografien der Porträtierten und Landschaftsgemälde vorgelegt.

Gesichter bilden eine spezielle Klasse von Objekten – sie sind für das soziale Wesen Mensch sehr wichtig: Der Mensch widmet der Gesichtserkennung besonders viele Ressourcen. Im Gehirn gibt es ganze Bereiche, die auf Gesichtsverarbeitung spezialisiert sind. Deshalb war es für die Wissenschaftler wichtig, herauszufinden, ob bei Alzheimer-Erkrankten Fertigkeiten der Gesichterbeurteilung bewahrt bleiben.

Die Teilnehmer wurden gebeten, Bilder danach zu sortieren, wie gut sie ihnen gefallen, also in eine Rangordnung zu bringen. Zu jedem Landschaftsgemälde und gemalten Porträt gab es auch ein entsprechendes Foto. Vierzehn Tage später folgte ein Wiederholungstest: Dabei wurde nun auch gefragt, ob sich die Teilnehmer an gewisse Bilder überdurchschnittlich gut erinnerten. Wie erwartet, war dies bei der gesunden Kontrollgruppe der Fall, nicht aber bei den Patienten. 

Stabile ästhetische Präferenzen

Überraschend war jedoch, dass die Patienten bei Landschaftsgemälden und Kunst-Porträts wie auch bei Landschaftsbildern Stabilität in ihren ästhetischen Präferenzen zeigten und die Ergebnisse damit annähernd gleich denen der gesunden Kontrollgruppe waren. Das Urteil war auch nach zwei Wochen ähnlich wie bei  der ersten Testreihe, auch wenn sich diese Patienten nicht tatsächlich an die Bilder erinnern konnten.

Anders war das Ergebnis aber bei Porträtfotografien: Für die Fotos von Gesichtern gab es keine ästhetische Stabilität. Sie wurden nach zwei Wochen ganz anders eingeschätzt. "Wir können nur vermuten, was das bedeutet. Es ist aber nicht auszuschließen, dass unsere ästhetische Betrachtung bei echten Gesichtern beziehungsweise Fotos andere Prozesse umfasst, als die ästhetische Betrachtung, die dem Kunstgenuss zugrunde liegt. Vielleicht ist es die Kategorie Kunst, deren ästhetischer Genuss auch bei Menschen mit Alzheimer-Erkrankung erhalten bleibt", erklärt Helmut Leder. Auch Patienten in fortgeschrittenem Stadium zeigten dasselbe Ergebnismuster.

"In weiteren Studien werden wir klären, inwieweit unsere Befunde geeignet sind, die Lebensqualität von Patienten durch die Beschäftigung mit Kunst zu verbessern und wie dies auch therapeutisch von Nutzen sein könnte. Die Studie zeigt aber auch ganz generell, dass unser Sinn für Ästhetik eine unabhängige, ganz eigene Form der Betrachtung darstellt", so Helmut Leder abschließend. (red, derStandard.at, 25.3.2013)