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Michail Gorbatschow mit Gattin Raissa beim Abflug nach dem Gipfel mit US-Präsident Ronald Reagan im Oktober 1986 in Reykjavík. Gorbatschow verglich Islands wechselhaftes Wetter mit dem weiblichen Charakter, was ihm eine Rüge Raissas eintrug.

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Swetlana Iwanowna und ...

Foto: Memorial/Verlag Hanser Berlin

... Lew Mischtschenko als Studenten und ...

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... fast 70 Jahre später als Ehepaar in Moskau im Jahr 2002.

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Wien - Josef Stalin, der mächtigste und blutrünstigste Herrscher der Sowjetunion, verlor zwei Frauen durch frühen Tod. 1907, als er noch Anarcho-Revolutionär im Kaukasus war und der Partei mit Banküberfällen Geld beschaffte, starb seine erste Frau Ketewan (Jekaterina) Swanidse, genannt Kato, an Fleckfieber oder Tuberkulose (die Angaben sind widersprüchlich). Zu seinem Genossen Sosso sagte Stalin: "Dieses Geschöpf hat mein steinernes Herz erweichen können. Nun ist sie tot, und mit ihr sind meine letzten warmen Gefühle für die Menschen gestorben."

25 Jahre später hatte Stalin seine Macht als Alleinherrscher der Sowjetunion gefestigt. Im November 1932, nach einem Festessen zum 15. Jahrestag der bolschewistischen Revolution, erschoss sich Stalins zweite Frau, die um 22 Jahre jüngere Nadja (Nadeschda) Allilujewa, in der Kreml-Wohnung. Nach Angaben der gemeinsamen Tochter Swetlana hinterließ sie ihrem Mann "einen furchtbaren Brief". Stalin reagierte auf die Todesnachricht mit den Worten "Sie hat mich zum Krüppel gemacht" und äußerte Selbstmordabsichten (Zitate aus "Stalin - Am Hof des roten Zaren" von Simon Sebag Montefiore).

Liebe als politischer Faktor

Wäre die Geschichte der Sowjetunion - und damit die Weltgeschichte - anders verlaufen, hätte Stalin eine erfüllte und belastbare Liebesbeziehung gehabt? Eine unhistorische, aber nicht unberechtigte Frage. Das neue Buch des letzten Staatschefs der UdSSR erlaubt jedenfalls den Schluss, dass Liebe zu einem eminent politischen Faktor werden kann. Michail Gorbatschow widmet das Werk seiner Frau Raissa, die 1999 an Blutkrebs gestorben ist.*

Im Vorwort zitiert Gorbatschow aus seinem Tagebuch: "Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld bin an Raissas Tod, ich rufe mir alles ins Gedächtnis zurück, um herauszufinden, wie es möglich war, dass ich sie nicht habe retten können. Ich habe gesehen, wie sehr ihr die Ereignisse der letzten Zeit zusetzten. Wie konnte es geschehen, dass unanständige, gewissen- und verantwortungslose Menschen in unserem Land die Oberhand gewonnen hatten? Raissa kam ständig auf dieses Thema zu sprechen. (...) Es quälte mich, dass sie litt."

Gorbatschow lässt damit durchklingen, dass Raissas Krankheit durch die Entwicklung in Russland zumindest mitverschuldet war - weil seine politischen Gegner, allen voran Boris Jelzin, den Kollaps der Sowjetunion nicht nur zugelassen, sondern aktiv betrieben und die späteren russischen Akteure sein politisches Erbe, die Perestroika, insgesamt verraten hätten. Damit projiziert er sein Leben als Politiker auf die Beziehung zu seiner Frau. Und das macht das Besondere an seinem bereits fünften Buch aus.

Mit der Liebe zum Humanismus

Dass Raissa seinen politischen Kurs beeinflusst oder gar auf einzelne Entscheidungen direkt hingewirkt habe, bestreitet Gorbatschow vehement. Und doch drängt sich ganz stark die Vermutung auf, dass die Intensität der Beziehung, das tiefere Einverständnis, die vielen Gespräche der Eheleute Gorbatschows Handeln, Zögern und Nichthandeln als Partei- und Staatschef mitbestimmten. Es lässt sich annehmen, dass seine humanistische Gesinnung, die ihn vom Einsatz von Gewalt beim Auseinanderbrechen des Ostblocks und der UdSSR abhielt, stark in der Liebe zu Raissa verankert war.

Dabei kommt aber auch die für Gorbatschow typische Ambivalenz zum Vorschein. Beim Gipfel mit US-Präsident Ronald Reagan 1986 in Reykjavík meinte Gorbatschow zu Raissa, Islands wechselhaftes Wetter erinnere ihn an den Charakter einer Frau. "Willst du mir damit Vorwürfe machen?", entgegnete Raissa. Darauf Michail: "Nein, ich meine die Frauen allgemein. Und zu denen gehörst du natürlich auch."

Dass eine starke Beziehung auch von Spannungen lebt, ließ Gorbatschow schon an anderer Stelle durchblicken: "Zu ihren Lebzeiten sagte ich oft im Scherz und im Ernst, sie habe Glück mit ihrem Mann. Sie war gegenteiliger Ansicht: Nein, ich sei es, der Glück mit seiner Frau habe. Der Streit ist nicht beendet. Ich hoffe auf ein Treffen, darauf, dass wir weiter streiten können. Wir waren glücklich miteinander."

Eine andere erstaunliche Liebe

Michail Gorbatschow und Raissa Titarenko lernten sich 1951 als Studenten an der Moskauer Universität kennen und fanden erst nach und nach zueinander. Unter ganz ähnlichen Begleitumständen hatte dort 15 Jahre zuvor die Geschichte einer anderen erstaunlichen Liebe begonnen: jene von Swetlana Iwanowna und Lew Mischtschenko.

Allein wie sie entdeckt wurde, ist eine historische Sensation. Der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial wurde 2007 eine 37 Kilo schwere Kiste zugestellt: Sie enthielt 1246 Briefe, die Swetlana und Lew während der achtjährigen Haft Lews im Arbeitslager Petschora geschrieben hatten: 647 von Lew an Swetlana, 599 von Swetlana an Lew. Den ersten schrieb Swetlana im Juli 1946, den letzten Lew im Juli 1954, 16 Monate nach Stalins Tod. Der herausragende britische Russland-Historiker Orlando Figes hat die Briefe mit der ihm eigenen Erzählkunst zu einem Roman verwoben, der keiner ist, weil sich alles tatsächlich so ereignet hat.**

Das Prädikat Jahrhundertwerk scheint dafür nicht zu hoch gegriffen. Für Historiker steht die einzigartige Dokumentation der Lebensumstände im stalinistischen Nachkriegsrussland anhand persönlicher Schicksale im Vordergrund. Wie das Stalin'sche Strafarbeitslagersystem im Detail funktionierte - und nicht funktionierte -, wie es fallweise überlistet werden konnte: dies fast 40 Jahre nach Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" auf eine noch authentischere Art zu erfahren, hatte niemand mehr erwartet.

Aber das wirklich Berührende ist die Geschichte einer Liebe, die 14 Jahre Trennung durch Krieg und Straflager überdauert und sich weiterentwickelt. Trotz der Trennung, die nur durch drei kurze Besuche Swetlanas unterbrochen wird, oder vielleicht sogar deshalb? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht.

"Es wäre moralischer Selbstmord"

"Aber ich möchte, dass die Welt, auch wenn ich kein Teil von ihr bin, für Dich gut und interessant ist. Das wird ein entscheidender Sieg für mich sein, denn dann brauche ich mir keine Sorgen mehr um Dich zu machen", schreibt Swetlana. "Es wäre ein moralischer Selbstmord, kein Sieg", antwortet Lew. Und Swetlana schreibt zurück: "Als ich vom Sieg schrieb, meinte ich unseren eigenen. Nicht den Sieg über uns, sondern den Sieg über alles Grausame, dem wir uns stellen mussten ..."

Die Geschichte von Lew und Swetlana steht in ihrer Einzigartigkeit für sich. Zugleich spannt sie einen Bogen vom Liebeskrüppel, der zu einem der größten Massenmörder der Geschichte wird, zu dessen Spätnachfolger, der, verbunden mit einer geliebten Partnerin, Gewalt verabscheut und die Macht verliert. Das ergibt zusammen Geschichte in einer tieferen Dimension. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 26.3.2013)

* Michail Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe 2013, 25,70 Euro.

** Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. Hanser 2012, 25,60 Euro.