Die Volksrepublik China wird heute mehr denn je als Bedrohung – oder positiv ausgedrückt als große Herausforderung – für die internationale Gemeinschaft wahrgenommen. Der gespannte und teils kritische Blick der Weltöffentlichkeit auf den gerade beendeten Nationalen Volkskongress in Peking zeigt dies exemplarisch. Doch China ist eine Chance für Europa.

Ein gängiger Scherz unter China-Wissenschaftlern lautet: Die Darstellungen in chinesischen Statistiken kennen nur eine Richtung: von unten links nach oben rechts. Das Land hat einen beeindruckenden Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vollzogen. Wachstum, Wohlstand, Entwicklung: All dies scheint den Westen zu überrollen und ihm die eigenen Schwächen vor Augen zu führen. Besonders in der aktuellen Krise Europas ist von europäischer Stärke und von der Bedeutung Europas auf der internationalen Bühne nichts zu hören. Unstimmigkeiten unter europäischen Partnern sind allerdings alltäglich.

Der "Dalai‐Lama-Effekt"

Wen überrascht es da, dass die chinesischen Regierungsstellen dies erkannt haben und die Situation für sich nutzen. Aus Sicht Chinas handelt es sich bei den europäischen Staaten hauptsächlich um untereinander konkurrierende Akteure, die sich in Fragen der Menschrechte, aber auch bei großen wirtschaftlichen Investitionen in China, gegeneinander ausspielen lassen. Wurde die EU lange als wünschenswertes Gegengewicht zu den USA verstanden, so ist Peking heute skeptischer. Die chinesischen Vorbehalte gegenüber der EU als zentraler Pol der internationalen Beziehungen sind besonders in der Schulden- und Euro-Krise begründet.

Ein simples Beispiel ist der sogenannte "Dalai-Lama-Effekt" - China bestraft Länder, die das Oberhaupt der Tibeter offiziell empfangen, mit Zurückhaltung in den wirtschaftlichen Beziehungen. Der außenpolitische Berater der Bundeskanzlerin könnte dies so zusammengefasst haben: "Airbus­-Auftrag oder Foto mit dem Dalai Lama, Frau Merkel?"

Auch die chinesischen Investitionen in den kriselnden Euro-Staaten im Süden Europas geben Anlass zur Sorge. Das Problem liegt nicht etwa darin, dass ein Land Interesse daran hat, in Europa zu investieren, sondern darin, dass dies oftmals bilateral und ohne Absprachen mit anderen europäischen Partnern geschieht. Während Staaten der europäischen Peripherie das Reich der Mitte lange als direkte Konkurrenz im Niedriglohnsektor gesehen haben, erscheinen chinesische Investitionen heute als angenehmere Alternative zum Geld aus Brüssel oder dem Internationalen Währungsfonds.

Gibt nicht diese Situation den Anlass, über ein europäisches Gremium nachzudenken, welches ausländische Direktinvestitionen prüft und die Auswirkungen auf die Freiheit und Sicherheit Europas untersucht? In Schlüsselindustrien wie Rüstung, Hochtechnologie, Bildung und Forschung kann diese Form der europäischen Einigung einen freien, stabilen europäischen Markt langfristig sichern.

Teile und herrsche

In Peking werden Unstimmigkeiten in Europa sehr genau verfolgt. "Teile und herrsche" ist nicht nur eine außenpolitische Maxime des alten Rom, sondern auch des alten China: Bereits 500 vor Christus beschrieb der chinesische General und Militärstratege Sunzi diese Kriegskunst. Man darf stark vermuten, dass Sunzis Schriften auch den chinesischen Ministerien bekannt sind. Angesichts der innenpolitischen Probleme des Landes kann die neue Führung unter Staatspräsident Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang gar nicht anders, als die chinesischen Interessen auf der Welt gezielt durchzusetzen. Auf dem Nationalen Volkskongress wurden die aktuellen Probleme deutlich angesprochen: Korruption, Umweltverschmutzung und die Kluft zwischen Arm und Reich. Sie setzen jeden chinesischen Politiker unter einen alltäglichen Leistungsdruck, der sich auch im Umgang mit Europa zeigt.

Am Beispiel Chinas zeigen sich Brüche innerhalb der Europäischen Union, die Grund zur Sorge sind. Unterschiedliche Interessen, fehlende Absprachen oder mangelhafte Kommunikation auf europäischer Ebene und offensichtliche Verwerfungen zwischen europäischen Partnern schwächen Europa als Ganzes im Umgang mit einem stärker werdenden China.

Gemeinsam agieren

Die Situation serviert die Chance, Europa als politische Einheit mit politischer Einigkeit zu präsentieren und die dafür notwendigen Reformen innerhalb der EU anzugehen, auf dem Silbertablett. Wegen ihrer Größe können die europäischen Nationalstaaten nur dann die internationale Politik gestalten, wenn sie gemeinsam agieren – dies gilt auch für Deutschland. Dieser Rat ist nicht ganz neu – aufgrund der chinesischen Entwicklung aber offensichtlicher und notwendiger denn je.

Wenn Europa nicht gestalten kann und will, tun es andere Kräfte. Nationalstaatliche Politik muss ein Interesse an dieser neuen Art der europäischen Zusammenarbeit haben, denn sie beschränkt nicht, sondern erweitert die Möglichkeiten, Einfluss geltend zu machen und Interessen durchzusetzen. Neben dem Vorschlag, ausländische Direktinvestitionen besser zu koordinieren und kontrollieren, sollte auch über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen nachgedacht werden. Die Idee, Nicht-EU-Unternehmen von der Vergabe auszuschließen, wenn in ihren Heimatländern die Märkte geschlossen bleiben, liegt in Brüssel auf dem Tisch.

Es gibt keinen Grund, vor den aktuellen Herausforderungen zu verzweifeln und sie als Bedrohung zu sehen. Auch ein Rückzug, eine quasi europäische Beschäftigung mit sich selbst, ist ein Schritt in die falsche Richtung. Europa muss das Machtspiel der internationalen Politik besser verstehen und die richtigen Schlüsse ziehen. Wenn die Europäer ein aufstrebendes China als Chance verstehen, kann der nächste Schritt europäischer Einigung erfolgreich sein. (Christopher Brachthäuser, derStandard.at, 26.3.2013)