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Ob Sparprogramme töten, lässt sich nicht nachweisen. Dass besonders oft am Gesundheitssystem gespart wird, aber schon.

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Die Gesundheit der Europäer laufe Gefahr, Opfer der Wirtschaftskrise zu werden. Sparprogramme und steigende Arbeitslosenzahlen versperren den Menschen den Zugang zu adäquater Hilfe, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Beitrag in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet".

Das alles wirkt brisant angesichts der trostlosen Jobsituation in Europa. In der EU sind insgesamt 26 Millionen Menschen arbeitslos, was einer noch nie da gewesenen Erwerbslosenquote von 10,8 Prozent entspricht.

Ursache und Wirkung

"Die Finanzkrise in Europa hat große Gefahren (...) für die Gesundheit aufgeworfen", beginnt die britische Studie "Financial crisis, austerity, and health in Europe". Die Forscher schildern, wie Sparpakete in Ländern wie Griechenland und Portugal das Gesundheitssystem belasten.

Ihr Hauptaugenmerk legen die Autoren auf die Dynamik der Krise und das Versagen der Politiker, die Wirtschaft einmal nicht an die erste Stelle zu setzen. Ihre These lautet, dass das Zusammenspiel von Sparprogrammen, wirtschaftlichen Einbrüchen und schwachen Sozialnetzen die "Gesundheits- und Sozialkrisen in Europa entscheidend eskalieren lässt".

Versuchskaninchen Griechenland

Als Beispiel wird das Bemühen angeführt, Griechenland in der Eurozone zu halten. Die geldgebende Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Obwohl die Gesundheitsversorgung als innere Angelegenheit eines Landes gilt, habe die Troika die Gesundheitsausgaben Griechenlands auf maximal sechs Prozent der Wirtschaftsleistung beschränkt. So sollten innerhalb zweier Jahre Arztkosten um 25 und Spitalskosten um 15 Prozent zurückgehen. Bei der Verwaltung der öffentlichen Geldtöpfe sollten die Griechen nur mit der Hälfte des Personalstandes auskommen. Viele Leute rutschten in die Arbeitslosigkeit.

Laut Lancet haben die griechischen Kliniken daher Probleme gehabt, die medizinischen Mindeststandards zu halten. Viele Arzneien waren vorübergehend nicht verfügbar, da das Geld dafür fehlte. Der Staat stand bei Apotheken in der Kreide, da er mit der Bezahlung der auf Rezept ausgegebenen Medikamente nicht nachgekommen ist.

Alle müssen sparen

Auch Länder, die mehr oder weniger unbeschadet durch die Krise gekommen sind, haben gespart. Die Niederlande haben damit aufgehört, Physiotherapien und In-vitro-Fertilisationen zu zahlen. In der Mehrzahl der Staaten stieg der Selbstbehalt bei medizinischen Leistungen an. Frankreich, Finnland und Dänemark gehören beispielsweise dazu.

In anderen Ländern wurde dem Gesundheitspersonal weniger gezahlt, zu nennen sind die Euro-Sorgenkinder Zypern, Irland und Portugal. Sogar England hat die Gehälter vorübergehend auf bestehendem Niveau eingefroren.

In der Studie wird das Vorgehen Islands als Alternative bezeichnet. Dort haben die Bürger in einem Referendum harte Einschnitte abgelehnt und weiter in staatliche Dienste investiert. Entsprechend habe die Studie keine negativen Folgen der Krise für die Gesundheit nachweisen können.

Am sozialen Auge blind

Ein kausaler Zusammenhang zwischen steigenden Sterblichkeitsraten und Krisenprogrammen lässt sich freilich nicht valide feststellen. Dennoch seien die Europolitiker auf dem sozialen Auge blind, kritisieren die Forscher.

Das zeige sich etwa darin, dass die Europäische Kommission zwar dazu verpflichtet sei, die "Auswirkungen ihrer Politik auf die Gesundheit zu prüfen", dem aber bis dato bei keinem Sparprogramm nachgekommen sei, sagte Untersuchungsleiter Martin McKee, der für das European Observatory on Health Systems and Policies arbeitet.

Schere geht auf

Immerhin geben sich die Brüsseler Beamten zunehmend selbstkritisch. Die Sparpolitik zeitige immer weitreichendere Folgen für die Menschen. "Die soziale Krise in Europa verschlimmert sich weiter", wirft Sozialkommissar Laszlo Andor einen düsteren Blick in die Zukunft. Die drastische Kürzung der Sozialausgaben habe in vielen Ländern "zumindest kurzfristig" die Lage schlimmer gemacht.

3,7 Millionen Menschen haben allein seit April 2011 in der EU ihren Job verloren. Ihrer Arbeit verlustig sind vor allem die Menschen im Süden Europas gegangen. Die Arbeitslosenzahlen waren laut jüngstem Sozialbericht der Kommission Anfang 2013 in den südlichen EU-Staaten im Schnitt um zehn Prozentpunkte höher als in den nördlichen.

Sozialkommissar Andor rechnet damit, dass die Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten weiter zunehmen wird. Die EU-weite Jugendarbeitslosigkeit hat eine Rekordhöhe von 23,6 Prozent erreicht. Vor allem in Spanien, wo mehr als jeder zweite junge Mensch keiner Tätigkeit nachgeht, droht eine weitere Eskalation.

Politiker haben versagt

Auch da setzt die Kritik der Lancet-Forscher an. Staatlich geförderte Wirtschaftsforscher seien angehalten, Wirtschaftsdaten wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts oder der Arbeitslosenrate möglichst schnell zu ermitteln. Wenn es aber darum geht, den Gesundheitszustand der Menschen zu ermitteln, sei man um Jahre hinten nach, mahnen sie. Und es stimmt, während Konjunkturzahlen praktisch in Echtzeit veröffentlicht werden, stammen aktuellen Gesundheitszahlen aus dem Jahr 2010.

Der Schluss, der in der Studie gezogen wird: Der Politik bleibt so gar nichts anderes übrig als ihr Handeln primär an ökonomischen Aspekten auszurichten. (Hermann Sussitz, derStandard.at, 27.3.2013)