Man kann jemanden lieben, in guter Erinnerung haben und dennoch ab und zu wütend auf ihn werden.

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Vergangenen Freitag um etwa 19 Uhr rufe ich meine Mutter an. Ich sage ihr, dass der Artikel über den Tod meines Vaters auf derStandard.at veröffentlicht ist. Sie kennt den Artikel schon, aber sie liest ihn nochmals. Dann die ersten Postings, die ausnahmslos aufmunternd und mitfühlend sind. Nicht nur mich betreffend, sondern meine gesamte Familie. In dieser Nacht schläft sie so tief und lange wie seit Jahren nicht mehr.

Wir wissen nicht, ob das etwas mit der Veröffentlichung des Artikels zu tun hat, aber der Gedanke liegt nahe. Mein Vater hat sich erschossen. Ich habe in einem Artikel für den STANDARD geschrieben, wie wir Familienangehörige damit umgegangen sind. Seit seinem Tod sind nicht ganz fünf Jahre vergangen. Wir haben durch viele Gespräche, die Zeit und das langsame Aufarbeiten seiner Sachen mit dem Schmerz leben gelernt. Das öffentlich Machen dieser Erfahrung hat auch etwas mit meiner Aufarbeitung zu tun. Ich habe mich sozusagen zumindest zum Teil freigeschrieben. Im Gegensatz zu meiner Mutter schlafe ich in dieser Nacht aber so schlecht, kurz und unruhig wie schon lange nicht.

Minütlich kommen Nachrichten

Schon Tage vor der Veröffentlichung bin ich nervös. Ich habe Sorge, ob ich die richtigen Worte und den richtigen Ton getroffen habe, um über ein so heikles und sensibles Thema zu schreiben. Vor allem aber hoffe ich, die Erfahrungen mit dem Freitod, die andere auch gemacht haben, in deren Augen nicht zu banalisieren. Ab dem Zeitpunkt, da der Artikel öffentlich ist, bekomme ich im Minutentakt Nachrichten, E-Mails und SMS, ab Montag dann auch Briefe und Faxe. Sie sind fast ausschließlich positiv.

Ich möchte mich also vor allem einmal bedanken: für die ehrliche Anteilnahme, die meine Familie gerührt und mich in ihrem Ausmaß ein wenig überrumpelt hat. Ich wusste, dass ich ein Tabu zum Thema mache, aber nicht, dass der Gesprächsbedarf so groß ist.

Die Angst vor der Nachahmung

Freitode werden in Österreichs Medien wenig thematisiert, aus Angst vor Nachahmung. Das ist gut so. Aber es muss ein Weg gefunden werden, sich damit auseinanderzusetzen - das zeigen die unzähligen Reaktionen. Meine Familie hat viel über das Geschehene geredet, wir haben geweint, gelacht, uns zerstritten und wieder versöhnt. Ohne den Austausch wären wir nicht darüber hinweggekommen. Viele schreiben über ähnliche schreckliche Erfahrungen und dass sie nicht wissen, wie sie das Geschehene verarbeiten sollen. Sie schreiben, dass ihnen der Artikel geholfen hat. Das freut mich.

Ein paar schreiben, ich solle meinen Frieden mit dem Tod machen und meinem Vater seinen Frieden geben. Ich kann sie beruhigen. Das habe ich längst. Sonst hätte ich den Text gar nicht schreiben können. Man kann jemanden lieben, in guter Erinnerung haben und dennoch ab und zu wütend auf ihn werden. Ich halte diese Auseinandersetzung für hilfreich.

Jemanden zum Reden finden

Die schwierigsten Nachrichten kommen von jenen, die selbst zeitweise daran denken, sich zu töten, und schreiben, dass mein Artikel sie dazu bringt, verstärkt an ihre Kinder zu denken. Wenn es etwas gibt, das ich mit meinem Artikel erreichen will, dann, dass diese Menschen jemanden finden, mit dem sie reden können. Dafür gibt es Profis. (Saskia Jungnikl, Album, DER STANDARD, 30./31.3.2013)