In einer Zeit, in der Finanzaffären die Öffentlichkeit empören und ein " rotes" Kärnten im Rampenlicht steht, scheint es wieder etwas müheloser, das Gedankengut vieler schlagender Burschenschaften oder gar die gestrigen sowie heutigen Jörg Haiders unserer Republik aus den Augen zu verlieren. So mag es angebracht sein, zu einem Jahrestag des Höhepunktes der sogenannten Borodajkewycz-Affäre einen historischen Rückblick und eine Analyse anhaltender Geschichtsprägungen zu wagen.

Um die Person Taras Borodajkewycz entfaltete sich im Laufe der frühen 1960er-Jahre eine beispiellose Affäre, die am 31. März 1965 in die gewaltsamste Demonstration der Nachkriegszeit mündete und das erste politische Todesopfer der Zweiten Republik forderte. Zwar erwies sich der Fall als relativ folgenlos für Österreichs Vergangenheitsbewältigung, er offenbarte jedoch zum ersten Mal, unter welchen demokratiewidrigen Symptomen einer unbedachten Kontinuität die junge Republik litt und noch lange zu leiden haben würde.

Als am 1. Dezember 1961 der damals 19-jährige Student und spätere Finanzminister Ferdinand Lacina in seiner ersten Vorlesung von Professor Borodajkewycz an der Hochschule für Welthandel saß, fertigte er - ohne es zu ahnen - das Anti-Borodajkewycz-"Beweisstück" der kommenden Jahre an. Laut seinen Mitschriften bezeichnete der Professor Rosa Luxemburg als "jüdische Massenaufpeitscherin", verherrlichte den deutschen Freikorps, erklärte, dass Österreich als Nation weder 1918 noch heute existierte, und zählte Hitlers Heldenplatz-Rede sowie die Krönung von Papst Pius XII. zu seinen zwei glücklichsten Tagen.

Die Universität war in den frühen 1960er-Jahren bereits in fester deutsch- und katholisch-nationaler Hand; Borodajkewyczs Kollege an der Welthandel, Walter Heinrich, verteidigte zum Beispiel bis zu seinem Lebensende ganz offen die antidemokratischen Haltungen des Philosophen und Soziologen Othmar Spann. Ein in dieser Zeit führendes VSStÖ-Mitglied sah in den Professoren an der Geschichte und Germanistik lauter Herren, die den Nationalsozialismus ungebrochen durchtaucht hatten. An der Geschichte hatte die "geistige Welt der Monarchie" überlebt: "Bis zur Zeit der 68er war alles 50er-Jahre. Ich hab mich sehr fremd auf der Universität gefühlt. Erstens als Arbeiterkind, zweitens als Sozialdemokratin und drittens als Frau", erklärt Gertrude Czipke.

Als Anfang der 60er-Jahre die Sozialdemokratie diese Universitätsmisere aufgriff und Forscher wie Adolf Kozlik die Frage "Wie wird wer in Österreich Akademiker?" stellten, beschäftigte sich auch der frisch promovierte Jurist und heutige Bundespräsident Heinz Fischer in der Zukunft und der Arbeiter-Zeitung mit der universitären Lage. Fischer kritisierte 1962, dass "die demokratische Gesinnung den Studenten unter anderen von Prof. Taras Borodajkewycz beigebracht [wird], der unter Schuschnigg Katholikentage organisierte, aber 1938 sofort zum Naziregime überging und jetzt - akademischer Lehrer und Vorbild sein soll."

Fischer erhielt von Borodajkewycz daraufhin eine Ehrenbeleidigungsklage und wurde 1963 zu einer Geldstrafe von 4000 Schilling verurteilt. Über Albrecht Konecnys Vermittlung wurde Lacinas Mitschrift dem Richter präsentiert, allerdings - um den Studenten vor einem möglichen Studienausschluss zu schützen - anonym und daher als Beweismittel abgewiesen.

Obwohl das Nachkriegsösterreich eine schärfere Verbots- und Wiederbetätigungsgesetzgebung als die BRD erließ und sich anfangs dezidiert gegen das Wiederaufleben des Antisemitismus einsetzte, kippte es mit dem Buhlen der großen Parteien um die mehr als 600.000 als minderbelastet eingestuften ehemaligen Nationalsozialisten (als diesen 1949 das Wahlrecht wieder zugesprochen wurde) sehr rasch in eine Schlussstrichmentalität. Das alles gipfelte in der exzessiven Amnestiegesetzgebung Ende der 1950er-Jahre. Borodajkewycz war schließlich nur einer von vielen, die sich in den Proporz retteten.

Von der ÖVP dafür, dass er den Kontakt mit deutschnationalen Kreisen herstellte, schon länger geschätzt, wurde er vermutlich deshalb als Lehrender rehabilitiert. Verharmlosende Geschichtsbilder konnten wieder aufleben, und die selektive Wahrnehmung und Darstellung der NS-Zeit gewann damit ab 1949 deutlich an Fahrt. Im Interview mit dem Historiker Oliver Rathkolb wird das als Fehlentwicklung deutlich: "Wir kehren eigentlich heute - wie schon 1986 - wieder ins Jahr 1949 zurück." Die Republik hat sich also nichts erspart und zahlte immer wieder mit Affären den Preis ihrer Blindheit.

Die Affäre Borodajkewycz kam 1965 ins Rollen, als Oscar Bronner seinem Vater Gerhard - damaliger Leiter der satirischen Kabarettsendung Zeitventil - Lacinas Mitschrift überbrachte. Daraus entstand ein im Fernsehen ausgestrahltes fiktives Interview, in dem ein Schauspieler in der Rolle eines Journalisten einem anderen in der Rolle Borodajkewyczs Fragen stellte. Die Antworten kamen aus Lacinas Dokumentation.

Zwei Tage später wurde eine Pressekonferenz einberufen, in der Borodajkewycz unter dem Jubel vieler Studenten einige seiner ihm zugeschriebenen fragwürdigen Stellungnahmen bezüglich Österreichs und der Juden verteidigte. Durch das Engagement kritischer Journalisten wie Hugo Portisch, der sich gegen revisionistische Tendenzen stellte, explodierte die Medienlandschaft, und es kam zu ersten Demonstrationen. Portisch erinnert sich: "Da hab' ich der [Ku-rier-]Redaktion gesagt: ' Wer dieser Meinung nicht ist, wer nicht glaubt, dass wir da völlig richtig liegen, und diesen Kampf nicht mittragen kann, dem würd' ich raten, eher zu gehen.'"

Während Borodajkewyczs Anhänger "Hochschulautonomie" forderten, riefen deren Gegner zu "Wider den Faschismus" auf. Somit kam es am 31. März in der Wiener Innenstadt zum wildesten Straßenkampf der Zweiten Republik, im Laufe dessen der 67-jährige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger durch einen Schlag des Studenten Günther Kümel tödlich verletzt wurde. Wie es österreichische Affären so an sich haben, war auch diese mit der Pensionierung von Borodajkewycz rasch eingeschlafen und vergessen. Ihre Einzigartigkeit beruhte jedoch nicht auf ihren mageren Auswirkungen, sondern auf diversen Facetten ihrer Entstehungsgeschichte und der Symptome, die erstmals durch sie sichtbar wurden.

Die Affäre verdeutlichte, dass nicht nur "Gestrige" ihre Traditionen fortführen. Die familiengeschichtliche Strukturierung politischer Haltungen war in dieser Zeit völlig ungebrochen, denn "mit der Geburtsurkunde hätte man auch gleich die Beitrittserklärung für den betreffenden Verein unterschreiben können. Insofern haben wir uns völlig, wenn auch als später Ausläufer der traditionellen österreichischen Versäulung, aufgeführt", so Konecny, der heute seine damalige Gruppe als "Fortsetzer" einer sozialdemokratischen und auch " generell linken Tradition" einschätzt.

Zwei zentrale Folgeerscheinungen entwickelten sich aus diesen " Versäulungen" und wurden durch das Proporzsystem noch lange aufrechterhalten: Während "die Rechten" eine anhaltend revisionistisch geprägte Geschichtsfälschungskultur pflegten, die sie mit einer Schlussstrichmentalität gegenüber der NS-Zeit bis in die 1980er-Jahre retten konnten, wurde bei "den Linken" eine starke außerparlamentarische Gruppierung fast unmöglich - was auch deutlicher machte, warum aus "1968" nicht viel mehr als eine "zahme Revolution" und "heiße Viertelstunde" wurde.

Nach Borodajkewycz musste Österreich ganze zwei Jahrzehnte warten, bis ein weiterer "rehabilitierter Österreicher" durch eigenes Missgeschick zur Verkörperung eines österreichischen Symptoms wurde und eine vergleichbare Affäre auslöste. Bis Kurt Waldheim galt die Causa Borodajkewycz als erster Anstoßversuch Österreichs, sich demokratiewidrigen Kontinuitäten und Symptomen des Vergessens zu widersetzen. Aber die Nazi-Vergangenheit vieler Österreicherinnen und Österreicher kam tatsächlich erst 1986 durch die Waldheim-Affäre deutlicher ins Blickfeld: "Das war das erste Mal, dass dieses Land die Notwendigkeit erkannt hat, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen", so Oscar Bronner.

Nach der verspäteten, aber durchaus willkommenen Nazi-Aufarbeitung der Wiener Philharmoniker könnten nun auch die SPÖ und ÖVP entschlossen sein, ganz von sich aus die "braunen Flecken" ihrer Nachkriegsvergangenheit aufarbeiten. Keine leichte Aufgabe, wenn man sich die Paradoxien und Kapriolen vergegenwärtigt, in die alle verstrickt waren. Und hierzu ein kleiner Erinnerungsanstoß von Lotte Tobisch, die nach eigener Aussage bei den Roten als schwarz und bei den Schwarzen als rot gilt: "Wenn jemand in der Schuschnigg-Ära Katholikentage organisiert hat [wie Borodajkewycz], ist er mit großer Wahrscheinlichkeit nach Dachau gekommen. Nicht die Roten sind gesessen - die sind alle fast ganz gut durchgekommen. Ich erinnere mich auch an das Buhlen um die Nazis, und da waren die Roten in keiner Weise hinter den Schwarzen. Die haben ... auf die verdrehteste Art und Weise versucht, die [Ehemaligen] zu ködern." (Rafael Milan Kropiunigg/DER STANDARD, 30. 3. - 1. 4. 2013)