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Der Lueger-Ring ist seit 2012 Geschichte. An eine Umbenennung des Renner-Rings ist bis dato nicht gedacht. - Sollte man?

Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Franz Schausberger hat sich in seiner Erwiderung auf den Beitrag von Kurt Bauer über Leopold Kunschaks Antisemitismus auf einen Entlastungsangriff gegen Karl Renner beschränkt. Wiewohl nicht einzusehen ist, weshalb die Agitation Renners den Antisemitismus Kunschaks in irgendeiner Form besser oder auch nur weniger schlimm machen sollte, sind die Vorwürfe angesichts der von Schausberger präsentierten Zitate ernst zu nehmen. Norbert Lesers Einwand, Renner habe selbst jüdische Verwandte gehabt, ändert daran wenig.

Gerade weil der Vorwurf schwer wiegt, würde man sich aber - zumal von einem Historiker - erwarten, dass nicht der Brisanz der Polemik wegen Zitate durch Auslassungen verfremdet oder aus dem Kontext gerissen werden. Nehmen wir z. B. den von Schausberger erhobenen Vorwurf, Renner habe zur Genfer Sanierung sinngemäß gesagt, sie sei "nichts anderes als eine Unterwerfung unter das jüdische Großkapital, wodurch die besitzenden Klassen immer mehr landesfremd, nämlich jüdisch, würden".

Schausberger bezieht sich hier offenbar auf die Plenardebatte vom 26. November 1922 zur von Kanzler Seipel vereinbarten "Genfer Anleihe". Für die zugesagte Anleihe sollte sich Österreich zu massiven Sparmaßnahmen unter internationaler Aufsicht verpflichten. Renner spricht sich vehement gegen die Pläne aus, weil sie die junge Republik von politischen Entwicklungen anderer Länder abhängig machen würde. Das Ziel der Kritik ist der christlichsoziale Kanzler Seipel, dem Renner vorwirft, er habe "die Schlüssel ausgeliefert jenem internationalen Kapital, das Sie selbst das jüdische nennen". Nicht Renner attackiert also das "jüdische Kapital", er spricht vielmehr die antisemitische Propaganda der Christlichsozialen an.

Und auch die Darstellung Schausbergers, Renner appelliere an die Christlichsozialen, in der Judenfrage durchzugreifen, liest sich im Zusammenhang deutlich anders. Renner repliziert am 23. November 1920 auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Mayr. Er attackiert die Christlichsozialen dafür, dass sie schon seit Luegers Zeiten die Regierungsgeschäfte im Hintergrund kontrolliert, sich gleichzeitig aber öffentlich als Opposition gebärdet hätten. Nun seien sie direkt zur Regierung gelangt und könnten auf dem Gebiete der Wirtschafts-, Außen- und Sozialpolitik nicht mehr die Schuld auf andere schieben. Renner sagt in diesem Zusammenhang: "So werden wir denn alle Handlungen dieser Regierung mit lebhaftem Interesse erwarten. Wir werden Sie nicht hemmen, wir haben das Interesse, dass Sie sich ausleben können."

Im Verlauf der Rede spitzt Renner seinen Sarkasmus weiter zu und gelangt zu dem von Schausberger aus dem Zusammenhang gelösten Zitat: "Der Wahlkampf wurde eigentlich nicht um diese Dinge geführt, er wurde geführt um die Judenfrage. Sie werden nun die Gelegenheit haben, die Judenfrage zu lösen ..." Wie wenig Renner an antisemitischer Wahlkampfführung gelegen ist, möge man schlussendlich der darauffolgenden Passage entnehmen: "Ich bin überzeugt, wenn Sie keine Juden hätten, der (christlichsoziale Abgeordnete, Anm.) Dr. Jerzabek würde selbst nach Ostgalizien fahren und tausend Ostjuden herbringen als Agitationsmittel. Diese Frage hat in den Wahlen entschieden und entschieden hat die allgemeine Anschwärzung und Herabsetzung."

Man kann geteilter Auffassung über den Stellenwert von Zynismus in politischen Reden sein - nicht jedoch darüber, dass Renners Aussagen einen völlig anderen Charakter hatten, als uns Schausberger glauben machen will.

Kein rotes Tabu

Nun sehe ich in der kritischen Beurteilung von Karl Renner (und anderen Sozialdemokraten) wahrlich kein Tabu - das war es schon unter Zeitgenossen nicht. Renner musste sich aufgrund seines Opportunismus schon von seinem Parteifreund Friedrich Adler vorhalten lassen, er sei " der Karl Lueger der Sozialdemokratie". Tatsächlich ist insbesondere Renners Verhalten im März und April 1938 mehr als nur fragwürdig. Auch wird niemand in Abrede stellen, dass es auch antisemitische Entgleisungen einzelner sozialdemokratischer Politiker gegeben hat oder dass sich in der sozialdemokratischen Agitation ab und an antisemitische Stereotype finden lassen. Es ist aber argumentativ unredlich, durch die verfälschende Wiedergabe von Zitaten gezielt den Eindruck erwecken zu wollen, als seien alle österreichischen Parteien gleichermaßen antisemitische Vereinigungen gewesen.

Die Logik hinter dieser Argumentation liegt auf der Hand: Wenn "eh alle" Antisemiten waren, dann wiegt der "eigene" Antisemitismus weniger schwer. Tatsächlich könnte der Kontrast zwischen Sozialdemokratie und Christlichsozialen gerade in der "Judenfrage" größer nicht sein. John Boyer hat in seiner Lueger-Biografie eindrucksvoll nachgezeichnet, dass der Antisemitismus für die Christlichsozialen von Beginn an als ideologisches Fundament für eine höchst heterogene Bewegung fungierte. Demgegenüber trat die Sozialdemokratie entschieden für die Gleichheit aller Staatsbürger und damit auch für die Emanzipation und Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden ein. Gerade weil sie die einzige nicht-antisemitische Partei Österreichs war, war ein Gutteil des sozialdemokratischen Führungspersonals, von Bauer bis Tandler, jüdischer Herkunft.

Das schändliche Verhalten Schärfs, Helmers und anderer gegenüber den Emigranten nach 1945 sollte den Blick auf diese Tatsachen nicht verstellen. Nach den wissenschaftlichen Arbeiten über den teilweise zweifelhaften Umgang mit dem NS-Erbe der Sozialdemokratie wäre auch die ÖVP gut beraten, sich intensiver mit ihrer Geschichte zu befassen. " Haltet den Dieb"-Geheul à la Franz Schausberger wird ihr das auf Dauer nicht ersparen können. (Ludwig Dvorak, DER STANDARD, 30. 3. - 1. 4. 2013)