Nahost-Experte Alastair Crooke.

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STANDARD: Kann man heute, nach zwei Jahren, noch vom "Arabischen Frühling" sprechen?

Crooke: Ich glaube nicht. Am ehesten sprechen die betroffenen Menschen von "Aufstand". Aber im Kern weiß heute niemand, worum es geht. Die Vorgänge fügen sich nicht ein in ideologische, religiöse oder gesellschaftliche Kategorien. Wir haben es hier mit etwas sehr Tiefem zu tun. Vielleicht ist es einer jener großen historischen Wechsel, zu denen es kommt, wenn ein Zeitalter zu Ende geht.

STANDARD: "Aufstand" würde bedeuten, dass die Bewegung von unten ausgeht. Ist das der Fall?

Crooke: Es geht um mehr als bloß um Befreiung. Das Narrativ vom Protest gegen ein autoritäres Regime ist zu oberflächlich. Alles im Nahen Osten ist dabei zu erodieren: Die intellektuellen, die politischen, ja sogar die staatlichen Strukturen. Daher sind die Menschen voller Angst, sie fühlen sich verletzlich. Sie sehen, dass die alte Ordnung in vielen Bereichen wackelt und zusammenbricht.

STANDARD: Wo liegen die Ursprünge für diese Erosion?

Crooke: Es ist eine Radikalisierung mit einer ihr eigenen, sehr scharfen Rhetorik festzustellen - und zwar schon seit rund zehn Jahren. Der Trend geht von Saudi-Arabien und den Golfstaaten aus. Eine solche Rhetorik legitimiert mit der Zeit den radikalen Rand. Gleichzeitig übertönt sie die Stimme der Moderaten, die sich mehr und mehr fürchten, die Fundamentalisten offen zu kritisieren. Zu groß ist für sie das Risiko, als Regimesympathisanten zu gelten.

STANDARD: Das gilt aber nicht nur für Syrien, oder?

Crooke: Nein, der Trend verbreitet sich über die gesamte Region. So ist etwa in Pakistan die Meinung weitverbreitet, dass der Terror im eigenen Land bloß Teil einer Strategie eines Stellvertreterkrieges zwischen dem Iran und Saudi-Arabien ist.

STANDARD: Mit Pakistan und vor allem Afghanistan beschäftigen Sie sich ja sehr intensiv ...

Crooke: Ja, die Region ist beispielhaft. Der Westen versuchte vor 30 Jahren in Afghanistan durch die Unterstützung lokaler Kräfte die Sowjets in die Enge zu treiben. Was geschah? Sie hörten zu, sie nahmen das westliche Geld - und machten dann ihre eigene Politik.

STANDARD: Afghanistan als Lehrbeispiel für den Westen?

Crooke: Durchaus, und zwar als Beispiel dafür, dass wir damals das Problem nicht richtig betrachtet und verstanden haben. Die USA schoben Bedenken und kritische Fragen damals einfach beiseite. Schließlich waren ihre Kontaktleute immerhin jene, die den Kommunisten "in den Hintern traten", um es salopp zu formulieren. Ähnliches droht heute mit Syrien. Ich frage mich: Wissen wir überhaupt, was wir da tun? Wissen wir, mit wem wir uns verbünden? Wissen wir, wohin es führt? Prinzipiell gäbe es Lektionen aus der Vergangenheit, um unsere Hausaufgaben machen zu können. (Gianluca Wallisch, derStandard.at, 30.3.2013)