In einer etymologisch durchwegs als archäologisch zu interpretierenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schuf der amerikanische Universalkünstler Roberto Longo zwischen 2000 und 2002 einen monumentalen Freud-Zyklus - eine Serie von Grafit- und Kohlezeichnungen. Als Basis diente ihm die legendäre Dokumentation des Fotografen Edmund Engelmann von 1938, als Sigmund Freud seine Räumlichkeiten bereits in Richtung Londoner Exil verlassen hatte. Während das Kameraauge keine Auswahl und Unterscheidung der in Wohnung und Ordination verorteten Gegenstände traf, blendete Longo ganze Komplexe aus, fokussierte auf einzelne Dinge: "Was ich mit den Freud Drawings gemacht habe, ist eine Psychoanalyse von Freuds Wohnung."
Etwas Ähnliches unternahm Philip Hohenlohe in literarischer Form. Sein Roman Das Gespensterpalais repräsentiert eine forensische Spurensicherung gesellschaftlicher, politischer sowie tiefenpsychologischer Natur. Stilistisch oszillierend zwischen historischer Aufarbeitung, Familiengeschichte und Psychodrama, siedelte Hohenlohe seinen Erstling primär im Hier und Jetzt zwischen Wien und New York an. Erzählt wird, vor der Kulisse eines klassischen Wiener Gründerzeitpalais des Fin de Siècle, die Reflexion der Historie des Untergangs und Auferstehung einer alten Adelsfamilie Österreich-Ungarns. Die Zäsuren und Verwerfungen, die Anfeindungen nach dem Ende der Donaumonarchie, in der Epoche der pubertierenden und in den Untergang dilettierenden Ersten Republik, illustrieren die Verbrechen der Nazi-Zeit und danach.
Brillant versteht es Hohenlohe, der an der New York University Drehbuch, Regie und Filmdesign studiert hat und jahrzehntelang als Designer bei internationalen Projekten beschäftigt war, elaborierte Kommentare über die Abgründe provinzieller Interieurs mit philosophischen Betrachtungen über Zeitlosigkeit, Kunst, Interieurs, Schönheit zu verbinden.
Anhand der in der Nervenheilanstalt am Steinhof episodenartig zu Protokoll gegebenen Erinnerungen einer alten Dame - "Elisabeth Lavo. Betonung auf O." - und der Tagebuchnotizen des selbst in Depression verfallenden behandelten Arztes eröffnet sich ein Universum austriakischer Besonderheiten und Absonderlichkeiten. Sandor K., ein ehemaliger Fürst in der Rolle des Bohemiens, führt eloquent von Paradoxon zu Paradoxon, hinterfragt vorgefasste Meinungen und Vorurteile. Mittels Hybridisierung von Themen und Gattungen, in der Weigerung, einen Unterschied zwischen Trivialmythen und Hochkultur zu machen, fabuliert Hohenlohe über Darwinismus und Religion, räsoniert über tradierte Werte, Akzente und politische Parvenüs, reflektiert Masse und Macht. Geheimer Hauptdarsteller aber ist das imperiale, zum Gespensterpalais verkommende Familienanwesen.
Abseits der präzisen Sprache, der Eloquenz und intellektuellen Beredtheit fesselt das literarische Debüt vor allem durch die Vielschichtigkeit der Erzählebenen. In pointierten, oft zynischen und amüsant launigen Statements lässt der selbst aus einer alten Adelsfamilie Stammende seine Protagonisten Bilanz ziehen, Ressentiments aufdecken und politische sowie soziale und kulturelle Zustände kommentieren. Das System Österreich dekuvriert Hohenlohe aus der Vogelperspektive. Erst seit 2001 lebt er wieder in Wien, der Stadt seiner Kindheit.
Entsprechend der Tradition literarischer Vorbilder wie Joseph Roth, Franz Kafka, Robert Musil, Saul Bellow oder Paul Auster: melancholisch, bissig, kämpferisch und fatalistisch zugleich. Auster hatte es als Zeitverschwendung apostrophiert, Gedanken und Dingen, Orten und Situationen nachzuhängen. Eine Einschätzung, die so gar nicht der heimischen Mentalität entspricht. Trotz der - allein schon aufgrund der Provenienz - gebotenen Contenance gebührt Autor und Roman eine eindringliche Empfehlung. (Gregor Auenhammer, Album, DER STANDARD, 6./7.3.2013)