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"Dass Stein doch stabilster Beschriftungsstoff ist, hat sich abgezeichnet."

Foto: REUTERS/Amr Abdallah Dalsh

Ein Ausflug ins Zentrum des Wissens.

Schon das Wort eine Wucht, ein flirrender Gongschlag, der Schlag einer Glocke mit Nachhall: Ä/gyp/ten! Das Wort wie ein Lockruf. Komm, schlug die Glocke, Welt/wunder erwarten dich, Pyramiden, komm! Im Kopf längst skizziert, dieser Weltwunderleuchtturm, um diesen reihten sich Pyramiden: An ihren Wänden ein Flirren: Götterbilder, Tierbilder, Zeichen: Wie diese alte Schrift heißt? Hier-o, nicht zu fassen, ein Flirren. Komm, rief die Sonntagsglocke, es gibt kein Entkommen! Ich lief zur Kirche: Ägypten! Der Geschichtsunterricht hatte bloß vage Bilder vermittelt. Und der Religionsunterricht? Das über Pharaos Streitmacht schwappende Meer? Ertrinkende Pferde? Nächstes Bild: Zieht nach Ägypten! Der Mann mit dem Esel, auf diesem die Frau. Ob es jene ist, die mich in der Kirche von oben herab so kalt mustert? Das Bild der Schwarzen Madonna. Sie, in Ägypten? Nein, so wie sie schaut, schaut für mich nichts heraus. All meine Bitten hat sie bisher ignoriert. Die Schwarze Madonna.

Alexandria. Weltwunderort. Zentrum des Wissens unter den Ptolemäern; drei Jahrhunderte Machterhalt unter griechischen Pharaonen: früheste Aufzeichnungen. Später Zentrum des Christentums. Den Ort betreten. War ich schon dort? Eine vorbeiflirrende Böe und über die Dächer. Anklopfen an der Tür eines alten Ägypters. In der Kanopischen Straße den Ort erfühlen unterm Asphalt, unter den Füßen den Tempel der neuen Musen der griechischen Göttinnen, der das Gedächtnis der Welt in sich barg: die Bibliotheca Alexandrina.

Ende 2002, nach einer Dokumentation in der ÖNB über die neue Bibliothek, begann ich zu gehen; war ich längst unterwegs. 2300 Jahre nach der antiken nun eine neue, im Geist der gewesenen. Ein Déjà-vu, bejaht vom arabischen Ägypten. Ein Symbol zur Verständigung und Vernetzung unserer Tage, zur Überwindung von Grenzen und Spannungen: Symbol der Vernunft. " Die Vernunft ist die Waage Gottes", so ein muslimischer Gelehrter. Ein Ort für Literatur und Wissenschaft und weltweit in Datenbanken gespeichertes Wissen. Eine mit der Sonnenscheibe um die Wette flirrende Riesenscheibe aus Glas. Davor eine Skulptur, eine zerbrochene, zusammengefügte, neu erstandene.

Erst holte der französische Unterwasserforscher Jean Yves Empereur den granitenen Torso aus dem Meer, dann zog er auch den Kopf aus den Tiefen am einstigen Weltwunderturm, in welche Ptolemäus II. Philadelphus abgetaucht war. Stolz trägt er die Krone Ägyptens. Wenn das kein Wunder ist? Ptolemäische Pharaonen: Zumindest die ersten drei trug es aufgrund ihrer elitären Machtmonumente über ihre Horizonte hinaus: Nach Alexanders Tod durften sie sich auf dessen Goldberg stützen. Auf ihre Ära gehen neben Neuerrichtung, Sanierung und Ausbau etlicher Tempel, allem voran Karnak, Luxor, der Leuchtturm Pharos, zurück sowie die Bibliotheca inklusive deren vehement betriebener Ausstattung und Füllung.

Das Zentrum des Wissens soll an die 700.000 Papyrusrollen geborgen haben, in welchen bereits der Schimmel gelesen haben soll. Heute bewacht der reanimierte Ptolemäer die neue Bibliothek. Abgesehen von über 200 Millionen Dollar für Unesco und diverse Stiftungen, wird Ägypten an zwei Dritteln der Summe noch länger nagen (40% Analphabetismus, 82 Mio. Einwohner), Nagib Mahfuz zeichnet im Das Hausboot am Nil Kleopatra, mit der die Ptolemäerära ihr Ende nahm, als kluge ägyptische Pharaonin. Zwölf Ptolemäerdynastien, darin geeint, sich offiziell nicht mit ägyptischem Blut zu mischen, sie mischten sich untereinander; genetische Auswüchse zeigten sich, sie griffen sich PartnerInnen aus okkupierten Ostregionen, um sich unterzubringen, sie brachten sich untereinander um, um Pharao werden zu können. Die Perser, eine der Fremdherrschaften Ägyptens, ließen den Pharaostatus untergehen.

Die Griechen reanimierten und lebten ihn. Kein Wunder: Jeder Pharao wurde mit Thronbesteigung zum göttlichen Horus, jeder tote Pharao zum unsterblichen Osiris. Mehr ist nicht zu haben. In der Bibliothek kam keine ägyptische Integrität als Direktor infrage, wiewohl nichts ohne ägyptische (Sklaven-)Arbeit ging. Bemerkenswert, hatten doch die alten Ägypter die Schrift, als die sogenannten Griechen noch einzeln in den Bäumen hingen.

Nicht nur die gesamte griechische Dichtung strebten die Direktoren an, sie rafften auch alles Wissenschaftliche und Fremdsprachige zusammen. Ihr Raffen soll teils illegal abgegangen sein. Doch die Bibliothek wuchs und war bald angesehener Ort der Philologie, der Lexikografie, der Literaturkritik geworden. Berufszweige wie Übersetzer, Kopierer vor allem aber Schreiber müssen hier beneidenswerte Höhepunkte erlebt haben. Im alten Ägypten nahm der Schreiber ein bedeutendes Amt ein, er genoss Ansehen, hatte Macht in der Hand, war Sichtbarmacher des Gesagten, schuf diese flirrenden Bilder (Bilderschrift: Lautwertschrift), die Hieroglyphen (hiero: heilig, glypho: (ein)schneiden), die von Tempelwänden und Stelen erzählen, von sich dynamisch und elfenleicht in höchste Höhen schwingenden, sich elegant verjüngenden Obelisken. In den Kartuschen Namen und Daten der Pharaonen.

Und es versteht sich, dass der seit 2010 gestürzte Pharao Mubarak die Bibliothek, quasi, als seine Kartusche gehandhabt hat. Eine Ära, die nun Geschichte ist. Ägypten: und seine Fundis, die Muslimbrüder. Ein friedlicher Zweig der Islamisten? Seit dem Massaker durch eine den " Brüdern" zugezählte Terroristengruppe mit 68 toten Touristen am Hatschepsut-Tempel ist das Wort Muslimbrüder negativ konjugiert. Nach Mubaraks Sturz sitzt nun ein gewählter Vertreter der "Brüder" im Präsidentenpalast: Demos und Aufruhr: Ziele der Revolution verraten. Staatskassen leer. Trotz hoher Fruchtbarkeit entlang der Nilufer sowie am Delta, trotz wuchernder Korn- und Maisfelder im üppigen Grün der Oasen, wo zwischen sichelschwingenden Bauern auch Traktor und Mähdrescher die Felder bestellen; ein Großteil der Bevölkerung lebt von der Hand in den Mund. Am Beispiel Zayed-Kanal werden durch Ableitung von Nilwasser gewisse Wüstenregionen für neue Anbauflächen hinzugewonnen.

Ägypten, Geschenk des Nils (Herodot). Wo Architekturen darauf warten, die Menschheit zu überdauern. Die Historie kann Flügel verleihen und doch nur Interpretation subjektiven Erlebens sein. Nichts ist sicher gilt auch für den Wissenschafter. Und ich bin bloß Schreiber und also ohne jedes Ansehen im Staat.

Fakt ist, dass das Lesen der heiligen Schrift der Ägypter abgetaucht war. Vergessen. Verworfen. Von wem. Vom in den Startlöchern fiebernden Octavian? Von der rasenden Zenobia von Palmyra? Haben sie die Christen erledigt oder Saladin, Sultan von Ägypten? Nahmen die Hieroglyphen vor den Mamelucken Reißaus oder vor den Osmanen? Nein, doch niiiie die Araber, die bis heute reingebliebenen Ägypter! Kein Tempelherr, Priester, Schreiber, der sich ihrer erinnert hätte?

Eines Franzosen bedurfte es, der Jahrhunderte später in diese Bildwelten eintaucht, um sie zu reanimieren. Die durch Jahrhunderte als undefinierbar geltenden Hieroglyphen: Ein Soldat Napoleons entdeckte den zerschlagenen Stelenstein, dem in drei Sprachen eine Geschichte eingeschnitten ist, nahe Alexandria. Doch schon hatte er ihn zu verlieren, damit die Briten ihn "fanden". Champollion, der geniale Entzifferer der Hieroglyphen, hat bloß mit einem Abguss vom Stein arbeiten dürfen. Alexandria, Osthafenbecken: Das Vergangene hört nie auf. Jahrtausendealte wieder aufgetauchte Artefakte, Sphingen, Skulpturen, nicht zuletzt durch den Unterwasserforscher Franck Goddio und Team. Land der Ursprünge, Ägypten, allem voran der Schrift. Machtinstrument einer Kultur.

Lange bevor Pharao Djoser bei seinem genialen Baumeister Imhotep in Sakkara ein mächtiges Bauwerk beauftragt, aus dem er zum unsterblichen Osiris mutieren will, hat Ägypten die Schrift. Forschungsberichten nach, bereits vor der I. Dynastie. Schon bald entwickeln die Ägypter die hieratische (Priester-)Schrift, sie stellen den Papyrus her, den sie hauptsächlich nutzen. Ab Mittlerem Reich soll es Schulbücher gegeben haben, sogar Biografien. Mögen auch immer mehr untergetauchte Kapitel auftauchen, um sich lesen zu lassen: Nichts ist sicher, nichts "wahr und rein", doch Bilder, die faszinieren und abtauchen lassen. Keinesfalls abtauchen wollten die Ptolemäer: Dass Stein doch stabilster Beschriftungsstoff ist, hat sich abgezeichnet. Schimmel in der Bibliotheca, die kostbaren Papyri in Gefahr. Bei der acidischen Luft in Alexandria hätte ja einer der genialen Direktoren, Epiker, Mathematiker, Erfinder, auf einige der Gesetze, Berechnungen greift man bis heute zurück, einen Raumtrockner erfinden können.

Wie schon die Ptolemäer vom Geist der alten Ägypter gezehrt haben, ein Jahrtausende überdauernder, flirrende Bilderwelten erzeugender, zwischen den Welten surfender, zwischen Ost und West, zwischen damals und heute, sollten die ratlosen "Brüder" von heute von diesem Geist zehren. Ob das ein Wunder wäre? Ägyptens Zukunft ein Gottesstaat? (Dine Petrik, Album, DER STANDARD, 6./7.4.2013)