"Wählerische Migranten" protestierten gegen Fornero.

Foto: STANDARD/Cremer

Michael Sandel: "Der unbedingte Glaube in die Märkte hat die Werte der Gesellschaft ausgehöhlt."

Foto: STANDARD/Cremer

Andreas Treichl: "Man kann nur ganz für Europa sein, oder gar nicht. Man kann nicht nur ein bisserl schwanger sein."

Foto: STANDARD/Cremer

Elsa Fornero: "Nicht eine Ablehnung Europas ist die Lösung, sondern mehr davon."

Foto: STANDARD/Cremer

Ian Katznelson: "Wir müssen uns auf Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Menschenrechte besinnen."

Foto: STANDARD/Cremer

Die Distanz zwischen dem Parlament in Rom und dem Wiener Burgtheater, 765 Kilometer Luftlinie, war nicht groß genug. Elsa Fornero wurde auch am Sonntag von der Tagespolitik eingeholt: Ex-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer wollte in seiner Eigenschaft als Moderator der Diskussionsreihe "Europa im Diskurs" gerade die italienische Ministerin für Arbeit und Sozialpolitik vorstellen, da erhob im Publikum ein junger Mann durchaus höflich, aber doch bestimmt und lautstark die Stimme: " Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche: Wir sind eine Gruppe junger ' wählerischer' Italienener, und wir möchten Ihnen gerne mitteilen, welche Art von Politikerin Frau Fornero wirklich ist!" Gleichzeitig machten sich sechs weitere Männer und Frauen daran, Flugblätter zu verteilen. Gekleidet waren sie mit T-Shirts, auf denen der Schriftzug "Choosy Italian Migrant" (wählerischer italienischer Migrant) zu lesen war.

"Choosy": Das Wort verfolgt Fornero schon seit Monaten, als sie - wie sie zum Standard sagte - in einem Interview falsch zitiert worden sei: Gemeint habe sie damals, junge Menschen sollten frühzeitig Möglichkeiten nützen, in den Arbeitsmarkt einzusteigen, denn später habe man mitunter keine Wahl mehr. Die Medien, und damit die Öffentlichkeit, bekam den Satz in den falschen Hals: Fornero war fortan jene Ministerin, die die Jugend davor warnte, in Sachen Arbeitsplatz bloß nicht "wählerisch" zu sein.

Fornero empfängt Kritiker

Fornero, an solche Störaktionen mittlerweile gewöhnt, konterte, ins dunkle Plenum spähend: "Wir werden hier wie geplant über 'Ungleichheit und Solidarität' diskutieren. Nach der Veranstaltung nehme ich mir aber gern Zeit, um mit Ihnen über das zu reden, was Ihnen am Herzen liegt." Tatsächlich empfing Fornero nach der Diskussion die sieben Männer und Frauen in einem Nebenraum mit Blick auf das Parlament und diskutierte mit ihnen über die Malaise der Arbeitsmarktpolitik, die viele italienische Jugendliche ins Ausland zwingt.

Ein wenig prägte dieses Intermezzo atmosphärisch auch den Rest der Veranstaltung, zu der die Erste Stiftung, das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), das Wiener Burgtheater und der Standard geladen hatten.

"Es stimmt schon, wir haben sehr harte Reformen durchziehen müssen", erklärte die parteilose Ministerin, im Zivilberuf so wie Premier Mario Monti Wirtschaftswissenschafterin. "Wir standen am Abgrund und mussten schnell handeln. Die Jungen, die Frauen aller Generationen und die Älteren: Sie alle sind lange Zeit vom Arbeitsmarkt de facto ausgeschlossen worden. Die Solidarität ließ in Italien in der Tat sehr zu wünschen übrig."

Pakt der Generationen

Die Generationen - ein Aspekt, den der US-Moralphilosoph Michael Sandel umgehend aufgriff: "Wir brauchen einen Sozialpakt zwischen den Generationen. Nur das kann Solidarität innerhalb der Gesellschaft herstellen. Der unbedingte Glaube an die Märkte hat in den letzten Jahrzehnten die Werte der Gesellschaft ausgehöhlt. Heute kann man mit Geld nicht nur Güter kaufen, sondern auch Meinung und Macht. Und das ist unsolidarisch."

Andreas Treichl, Geschäftsführer der Erste Group, stellte das Image infrage, das Europa weltweit genieße: "Alle glauben, hier bei uns in Europa gibt es so viel soziale Fairness und so wenig Ungleichheit. Das ist ein völlig falsches Bild. Europa hat seinen Sinn für Solidarität schon längst verloren." Gleichzeitig übte Treichl Kritik an der Attitüde der wohlhabenderen EU-Staaten, Österreich eingeschlossen, die auch noch in der Krise massiv von den Nöten der schwächeren Partner profitieren würden.

Risiken nicht mehr einschätzbar

Sandel pflichtete bei: "Europa als Projekt für die Zivilgesellschaft und den Frieden ist längst vom Europa des finanziellen Profits überholt worden. Der unbedingte Glaube in die Märkte hat die Werte der Gesellschaft ausgehöhlt. Was ist aus eurem europäischen Traum geworden?" Gleiches, so schob der Harvard-Professor nach, treffe aber auch für die Demokratien der gesamten westlichen Hemisphäre zu.

Der US-amerikanische Politologe und Historiker Ira Katznelson löste die Debatte aus ihrem bis dahin wirtschaftspolitischen Gravitationszentrum heraus: Die gehörten Argumente mögen ja alle richtig sein, doch in einem weiter gefassten Kontext gehe es doch darum, dass letztlich die Demokratie als solche auf den Prüfstand gestellt werde. "Die Menschen gehen ihr ganzes Leben lang Risiken ein. Das ist normal. Sie bauen Häuser, sie heiraten, obwohl sie wissen, dass das zu 50 Prozent schief gehen wird. Doch das waren bisher Risiken, die man halbwegs einschätzen konnte. Heute kommen uns diese Parameter abhanden, und das macht Angst." In der Folge werde von vielen nicht nur die freie Marktwirtschaft abgelehnt, sondern die Demokratie als Ganzes. "Das ist ein Zynismus, vor dem ich deutlich warnen muss", sagte der Columbia-Professor. "Wir müssen uns auf Rechtsstaatlichkeit, politische Repräsentation, Toleranz und Menschenrechte besinnen. Ohne diese Werte drohen wir vom richtigen Weg abzukommen."

"Einfach nur ein Albtraum"

Fornero zeigte sich zwar "fasziniert" von den Analysen ihrer männlichen Kollegen am Podium, bat aber auch um Hilfe für die politische Praxis. " Technokraten können langfristig nicht visionäre Politiker ersetzen. Wir brauchen eine klare Makro-Politik für mehr Beschäftigung. Nicht eine Ablehnung Europas ist die Lösung, sondern mehr davon."

Eine Forderung, die Banker Treichl nur allzu gern aufgriff: Die EU sei in den vergangenen Jahrzehnten fast ausschließlich auf der wirtschaftlichen Schiene unterwegs gewesen, der politische Zukunftsdiskurs habe oft gefehlt. "Man kann nur ganz für Europa sein - oder aber gar nicht. Man kann nicht nur ein bisserl schwanger sein." Und in Richtung Fornero: "Ich dachte immer, es ist unangenehm, ein Banker zu sein - aber Minister in Italien zu sein, das ist wohl noch unangenehmer." Die Ministerin nickte: "Es ist einfach nur ein Albtraum." (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, 8.4.2013)