STANDARD: In Österreich hat dieser Tage eine Untersuchung gezeigt, dass Migration in Schulbüchern vor allem als Problem vorkommt. Warum werden Zuwanderer noch immer stereotyp dargestellt?
Terkessidis: Offenbar war der gesellschaftliche Druck nicht entsprechend. Österreich hat sich lange mit der Migration schwergetan und hat ja im Grunde noch nicht anerkannt, dass es ein Einwanderungsland ist. Daher hat man sich in einer Art fiktivem Provisorium eingerichtet und denkt, irgendwann gehen all diese Leute wieder nach Hause. Insofern müssen sie gar nicht in die Schulbücher.
STANDARD: Wie sollen die Schulen auf die Vielfalt in der Gesellschaft reagieren?
Terkessidis: Das ist im Grunde einfach. Wenn ich in einer Stadt wie Wien lebe, in der die Hälfte der Bewohner Migrationshintergrund hat, muss man das im Unterricht auch abbilden. Wenn ich über das Mittelalter rede, und ich rede in einer Klasse, in der viele Schüler türkischer oder arabischer Herkunft sind, und ich rede ununterbrochen nur über das europäische Mittelalter, dann passt das nicht mehr. Das Gleiche gilt für Schriftsteller, die eingewandert sind und die auf Deutsch schreiben. Deren Werke könnte man in den Deutschunterricht einbauen.
STANDARD: Sie sprechen von Interkultur, wo liegt der Unterschied zu Integration?
Terkessidis: Im Perspektivenwechsel. Integration, wie sie auch von konservativen Kreisen immer wieder ins Spiel gebracht wird, heißt: Da gibt es Leute, die sind zu uns dazugekommen und die haben Defizite. Es geht in der Diskussion der letzten 30 Jahre immer um Sprachprobleme, patriarchale Strukturen und um Ghettobildung. Im Schulbereich heißt das, dass eine Sonderklasse gebildet wird. Dort bekommen die "Problemkinder" Deutschunterricht, und in der angeblichen Stunde null sollen dann alle gemeinsam durchstarten.
STANDARD: Das wurde in Österreich vom Integrationsstaatssekretär immer gefordert.
Terkessidis: Dieses Modell passt in einer Gesellschaft, in der mehr als die Hälfte Migrationshintergrund hat, aber nicht mehr. Zumal ja einheimische Kinder oft genauso Sprachprobleme haben. Wir schauen immer auf die sogenannten Problemgruppen, dabei müssen wir die Institutionen verändern und uns fragen, ob die eigentlich fit für die Vielfalt sind. Wenn man heute in eine Schule in Wien oder in Deutschland geht, dann zeigen die Klassen diese Vielfalt auf. Aber im Lehrerzimmer werden Sie sehen, dass dort niemand Migrationshintergrund hat. Daher muss man klar sagen: Das Lehrerzimmer ist heute die Parallelgesellschaft.
STANDARD: Aber auch viele Eltern wollen ihre Kinder nur in Klassen mit einem möglichst geringen Migrantenanteil geben.
Terkessidis: Diese Sichtweise wird leider von der Politik befördert, warum sollen die Eltern das anders sehen? Wir brauchen Schulen, die bewältigen können, dass unsere Gesellschaft so beschaffen ist, und das nicht immer als Problem sehen. Außerdem gibt es bei Eltern eine unglaubliche Bildungspanik. Ich bin gut ausgebildet, meine Frau auch - was soll unserem Kind passieren? Wenn ohnehin schon alle Statistiken sagen, dass die soziale Herkunft stark entscheidend ist. Die Eltern der Mittelschicht haben aber überhaupt kein Selbstvertrauen mehr und fürchten, dass ihre Kinder infiziert werden von solchen Kindern, die schlechter sind. Das entspricht aber überhaupt nicht der Realität.
STANDARD: Wie soll der Spracherwerb in der Schule organisiert werden?
Terkessidis: Von den Sonderklassen wissen wir ja mittlerweile, dass das nicht erfolgreich ist. Viel erfolgreicher ist das Modell Deutsch als Zweitsprache, wo man über fünf bis acht Jahre im Regelunterricht die Sprache erwirbt. Das würde allerdings bedeuten, dass man den Unterricht nicht mehr als Frontalunterricht abhält. Das Geld, das man in Sonderklassen steckt, wäre viel besser angelegt, wenn davon Lehrer für Deutsch als Zweitsprache ausgebildet werden. Das heißt, ein Kind, das noch wenig Sprachkenntnisse hat, kann zum Beispiel trotzdem schon am Mathematikunterricht teilnehmen. Der Lehrer kann dann während des Unterrichts auf den Spracherwerb eingehen.
STANDARD: Institutionen scheinen sich oft erst aktiv um Migranten zu bemühen, wenn es personell eng wird. Teilen Sie diesen Eindruck?
Terkessidis: Das ist ja nicht schlimm. Ich finde, man sollte das ganz pragmatisch sehen. In progressiven Kreisen hat man über Migration auch viel zu lange moralisch gesprochen. Aber die Einwanderungsgesellschaft ist keine gemütliche Angelegenheit. Oft sind es ja Organisationen wie das Rote Kreuz in Deutschland, die plötzlich merken, sie haben keinen Nachwuchs bei den Ehrenamtlichen mehr. Diesen Druck halte ich für gut, und ich will, dass sich die Institutionen in ihrem eigenen Interesse verändern. Es geht ja gar nicht darum, dass die was Gutes für Ausländer tun.(Bettina Fernsebner-Kokert, DER STANDARD, 13./14.4.2013)