
Literatur ist nicht dazu da, immer wieder auf den neuesten Stand der sprachlichen Form gebracht zu werden, findet Peter Turrini.
STANDARD: Was halten Sie von Rufen nach "politisch korrektem" Umschreiben von Kinderbüchern?
Turrini: Ich halte es für eine Idiotie, um es in aller Klarheit zu sagen. Natürlich wandelt sich der Geist der Zeiten, Gott sei Dank, aber wenn man bei jedem Wandel jedes literarische Werk sozusagen immer auf die Formulierungshöhe der jeweiligen Zeit bringen wollte, müsste man die Literatur zerstören. Ein simples Beispiel: Schneewittchen und die sieben Zwerge. "Zwerge" ist kein politisch korrektes Wort mehr, man müsste es also "Schneewittchen und die sieben Kleinwüchsigen" nennen. Das würde einer Zerstörung der Literatur gleichkommen.
STANDARD: Verstehen Sie, wenn jemand sagt, im Kinderbuch soll das Wort "Neger" nicht vorkommen?
Turrini: Niemand hindert Eltern, ihren Kindern zu erklären, dass dieses Wort in einer Zeit geschrieben wurde, in der es nicht anstößig war, dass dieses Wort aber dadurch, wie man Schwarze behandelt hat, einen bösen Hintergrund bekommen hat etc. Aber Literatur ist nicht dazu da, immer wieder auf den neuesten Stand der sprachlichen Form gebracht zu werden, weil sie selbst Form ist. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, zu sagen: Der Charakter von Richard III. bei Shakespeare, dieser Absolutismus, ist nicht mehr erlaubt, denn inzwischen haben wir demokratische Politikformen entwickelt, also demokratisieren wir Richard III. Die Literatur ist auch ein Teil des Protokolls der Zeiten, und wenn man glaubt, dieses Protokoll fälschen zu müssen, fälscht man die Literatur.
STANDARD: Wie halten Sie es denn mit der Political Correctness?
Turrini: Dass man beim Denken genau sein sollte, halte ich für eine Grundvoraussetzung. Dass bestimmte Worte en vogue sind und zu dem gehören, was politisch korrekt ist oder nicht, halte ich für keine Grundvoraussetzung der Literatur. Das Schöne an der Literatur ist: Sie darf alles. Das ist noch kein Freibrief dafür, dass es gute Literatur ist, aber es ist eine Haltung gegenüber einem Bereich unseres Lebens - nämlich dass sie mit keiner Auflage durch die Gegend zu rennen hat.
STANDARD: Misstraut eine Gesellschaft, die Kinderbücher zensiert, nicht eigentlich mehr sich selbst als Büchern und bestimmten Wörtern?
Turrini: Da gibt es noch einen Aspekt, der mir auch am Theater inzwischen sehr zu schaffen macht. Dieser frei verfügbare Umgang mit Sprache, sicher auch dadurch befördert, dass man sich alles und jedes aus dem Internet heraussaugen kann, reduziert auch den Respekt vor der Sprache im Allgemeinen und leider auch vor der literarischen Sprache. Kaum ein Werk wird noch in seinem Originalzustand rezipiert. Es wird korrigiert, umgeschrieben, als wäre das literarische Wort sozusagen Teil eines Gemischtwarenladens, wo man sich halt bedienen kann, wie man es gerne hätte. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 20./21.4.2013)