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Geruchsintensive Fleisch-Schau am Markt in Marokko: "Beim Durchgehen muss ich mich durchs aufgehängte Fleisch schlängeln, die blutigen Seiten in Augenhöhe ..."

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Sabine Scholl: "Die Kinder sind sterile Supermärkte gewohnt, wo es keine Gerüche gibt, kein Blut, keine Erinnerung daran, dass die in Plastik verpackten Fleischstücke einmal Lebewesen waren."

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Wie könnten wir sonst die fremde Stadt wahrnehmen, in der wir uns nur für kurze Zeit aufhalten? Doch schon das "wir" ist uneinheitlich: drei Erwachsene, zwei Teenager, zwei Kinder in Marokko. Auf dem Markt begegnen wir rot, grün, blau, orange, lila gefärbten Küken, die für wenig Geld an Kinder verkauft werden, zum Spielen. Der Verkäufer stopft die Küken grob in eine Plastiktüte. Ein paar Tage später liegen die Tiere sterbend in der Gasse, beobachtet von ihren jungen Besitzern. Unsere Kinder sind empört.

Wir bewohnen ein dreistöckiges altes Haus mit einem nach oben hin offenen Innenhof. Pölster und Decken muffeln wegen der hohen Luftfeuchtigkeit. Dünne Staubschichten und Sand liegen auf dem Treppenaufgang. Auch im Innenraum ist man über den Hof mit dem Außen verbunden. Kreischende Möwen, raschelnde Plastiktüten, Hundegebell, das heftige Rauschen des Atlantiks sind auszumachen. Am eindrücklichsten aber bestimmen Muezzins den Tag, die hier ihre echte Stimmen erheben, nicht vom Band singen und sich leicht zeitverschoben zu einem Chor formieren.

Fatima kocht für uns. Wir begleiten sie auf den Markt. In der Geflügelabteilung stinkt es nach Blut und Exkrementen. Die Tiere sind in verschiedenen Aufbereitungsphasen zu sehen: freilaufend, lebendig in Käfigen, tot und gerupft und vom Haken hängend, auf Holzbrettern gelagert, zerschnitten, als Eingeweide, als Sammlung von Flügeln. Ich traue mich nicht, hinzusehen, als in einer Ecke und dann in der nächsten Hälse verdreht, Köpfe abgehackt werden. Ich rette meinen Blick, indem ich ihn auf einen Bildschirm im Laden richte. Eine Tiersendung läuft, Krokodile, die ihre Beute lebend schnappen. In Zeitlupe klappen sie ihre Mäuler auf.

Die Kinder kommen nur einmal mit zum Einkaufen. Die gefärbten, todgeweihten Küken, die getöteten Hühner, die räudigen Katzen ohne Zuhause, die sie wegen möglicher Ansteckungsgefahr nicht anfassen dürfen, machen ihnen zu schaffen. Sie klagen über stinkenden Müll, die wegen Reparaturarbeiten teilweise offene Kanalisation und den Rauch der Sardinengrills, der die engen Gassen vernebelt.

Die Kinder sind sterile Supermärkte gewohnt, wo es keine Gerüche gibt, kein Blut, keine Erinnerung daran, dass die in Plastik verpackten Fleischstücke einmal Lebewesen waren. Sie ertragen den Gestank nach Latrine nicht, der aus dem mitteleuropäischen Alltag längst beseitigt wurde. Sie sind Ablaufdatumsjunkies, fest davon überzeugt, dass sich die Lebensmittel bei Überschreiten dieses Datums umgehend in giftige Substanzen verwandeln. Sie lassen sich nicht mehr von Geschmack und Aussehen überzeugen, sondern nur mehr von den Vorsichtsmaßnahmen der Lebensmittelindustrie.

Fett in allen Varianten

Aber sie fahren mit, als Fatima uns zum Frühstück mit ihrer Familie einlädt. Wir steigen in eine der blau bemalten staubigen Kutschen, die als billiges Verkehrsmittel dienen. Die Jungs dürfen am Bock Platz nehmen, um dann erschrocken zu berichten, dass der Kutscher die struppige Mähre zu oft geschlagen hätte. Wir lassen uns entlang des Industrieviertels transportieren, staubige Ruinen ehemaliger Konservenfabriken bis ins staubige Neubauviertel. Doch das Wohnungsinnere ist blitzblank geputzt, der Salon für besondere Tage mit glänzenden Sitzpolstern versehen, und die Frauen haben gebacken, servieren Zucker, Mehl und Fett in allen Variationen: Fladenbrote, knusprige Brote, dicke flaumige Crêpes mit Honig, mit Sirup, mit flüssiger Butter, Kuchen mit Gewürzen, Kekse mit Kakao, Schokolade, Marmelade und zum Schluss die Nuss-Mandel-Zuckerpaste. Sie verraten uns Rezepte, schenken stark gezuckerten Tee nach, und die Kinder essen, was das Zeug hält.

Beim Essen sind sie dabei. Dankbar für Fatimas Frühstücksfladen und ihre Sardinenbällchen, ihr Quitten-Hähnchen-Couscous, ihre Lamm-Pflaumen-Tajine. Sobald die Lebensmittel verarbeitet sind, kein Problem. Ohnehin hat jeder von uns seine eigene Art, die Fremde wahrzunehmen. Die Geräusche sind für alle unausweichlich. Doch dagegen helfen Kopfhörer und mitgebrachte Musik. Den Gerüchen kann man nur entgehen, indem man im Haus bleibt. Einer der Teenager verlässt auch sein Zimmer kaum. Will keine Sonne, kein Meer, keinen Strand, nur das Internetcafé bietet genügend Anreiz. Kurz vor der Schwelle zum Erwachsenwerden ist die Bedrohung durch die Welt außerhalb des Internets anscheinend besonders groß. Er ist auch derjenige, der als Erster von uns kotzt.

Der zweite Teenager konzentriert sich auf die Haut. Möglichst viel in der Sonne liegen bedeutet möglichst viel Bräune, die von einem Aufenthalt in der Fremde ausreichend erzählt. Andererseits ist sie genervt von ständigem Geflüster, das ihr auf der Straße zufliegt. Sie befindet sich das erste Mal in einem Land, in dem Frauen einen anderen Status als Männer haben, bekommt Albträume, verbarrikadiert nachts die Tür zum Schlafzimmer.

Tagsüber backen wir Brot mit Fatima, mischen den Teig. Unsere Hände berühren sich über dieser Materie. Unsere Finger sind für die heftigen Knetbewegungen zu schwach. Wir sind Maschinen gewöhnt. Wir gehen mit Fatima in den Hammam. Im Dampfbad schrubbt sie unsere Haut krebsrot, wir schrubben Fatimas Haut. Sie ölt uns das Haar. Fatima zeichnet mit dem Hennastift Ornamente auf unsere Hände, unsere Oberarme, unsere Füße. Der weibliche Teenager taut dabei auf.

Ohne Fatima wären wir verloren. Sie ist die Übersetzerin, führt uns an Orte, die wir nicht wahrgenommen hätten. Wie zum Sonntagsmarkt, einer riesigen Freifläche, auf der Händler ihre Stände mit Plastikplanen errichten, geordnet nach Waren und Handwerk. Aber hier, in der Hitze, kapituliere sogar ich vor dem Fleischbereich, wo jegliches Getier geschlachtet, zerlegt, zur Schau gestellt wird. Die Bauchdecken hängen im Weg wie Vorhänge aufgespannt, ein junger Mann trägt einen Armvoll Mägen und Eingeweide vorbei, transportiert sie zum Grill. In Abständen von vierzig Zentimetern sind die Läden gereiht, beim Durchgehen muss ich mich durchs aufgehängte Fleisch schlängeln, die blutigen Seiten in Augenhöhe. Ich stolpere über schwarz gefackelte Ziegen- und Schafsköpfe auf dem Boden, Fellstücke, Hufe, alles wird verwertet, alles hat vor ein paar Minuten noch gelebt. Das Blut ist frischrot.

Ungewohnte Lebenskonzepte rücken vor Ort näher, werden unüberbrückbarer, als wenn sie bloß in Gedanken verglichen würden. Wir können das Thema nicht wechseln, wir befinden uns ja mittendrin. Zurück im Riad, blättern wir in der Werbebroschüre einer luxuriösen Hotelanlage, für deren grüne Golfplätze den Menschen der Altstadt schon mal das Wasser abgesperrt wird. Die Kinder sind begeistert. Sie wünschen sich so vornehm zu logieren. Eine abgeschlossene Welt, in der es keine Erinnerung an die Armut und den Gestank, also an die Lebensbedingungen der Bewohner gibt. Die Kinder wollen ihre Illusion retten. Ihre Träume bedienen, Träume, die aus Prospekten und Bildbänden stammen, von Youtube und den übertriebenen Berichten ihrer Freunde, die immer schon vorher da gewesen sind.

Fremde ist anstrengend

Die Kinder bleiben lieber im Haus vor ihren iPods und iPads. Beschränken sich auf die Berührung von Glas- und Plastikflächen. Die sind sauber und sicher, die bereinigten Bilder riechen nicht, die Geräusche sind aufbereitet und katalogisiert. Sich verbinden mit der Fremde ist zu dreckig, körperlich zu anstrengend, kann demütigend sein.

Zum Schluss sind wir alle krank. Durchs Haus tönt nur mehr das müde Schlurfen von Plastikbadeschlappen, die Toiletten hallen wider von den Verdauungs- und Kotzgeräuschen, kommen mit dem Befüllen der Spülkästen nicht mehr nach. Und in unseren Kameras nehmen wir Erinnerungen mit: Aufnahmen von Gebäuden, Landschaften und Tieren, kaum Fotos von Menschen, die nur erlaubten, ihre Hände, ihre Tätigkeiten und Waren abzubilden, weil auch der Prophet sein Gesicht nicht zeigt.

Die Kinder packen im Flugzeug die von Fatima bereiteten Sandwiches aus. Geruch von gekochtem Huhn steigt mir in die Nase. Raschelnd halte ich die lila Plastiktüte vom Markt vor meinen Mund: Ich muss kotzen.   (Sabine Scholl, Album, DER STANDARD, 20./21.4.2013)