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Am 26. April explodierte im Atomkraftwerk Tschernobyl ein Reaktor.

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Boris Derkatsch war einer von 700.000 Liquidatoren, die nach der Katastrophe das verstrahlte Gebiet säubern mussten.

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Von den 700 Einsatzkräften, die in den ersten zwei Schichten direkt nach der Katastrophe vor Ort waren, leben heute nur mehr 91.

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Als Boris Derkatsch am 29. April 1986 nach Tschernobyl einberufen wurde, kannte er nur den Zielort seiner Mission. Noch wusste er nicht, dass er die kommenden Tage als Liquidator sein Leben riskieren würde. Seine Aufgabe: die verstrahlten Gebiete rund um den explodierten Reaktor zu säubern.

"Als wir bei der Anlage ankamen, wurde uns aber sofort klar, wie gefährlich die Situation für uns alle war", sagt der 60-Jährige bei einem Wienaufenthalt im Gespräch mit derStandard.at. "Aber wir hatten keine Zeit für Gefühle. Wir wussten nur, dass wir schnell unsere Arbeit erledigen mussten."

Keine Verbindung zur Außenwelt

Drei Tage nach der Explosion im Block 4 des Kernkraftwerks erreichten Derkatsch und sein Bataillon die Katastrophenregion. Das Feuer im Reaktor war gelöscht, nun sollten die Liquidatoren von Hubschraubern aus den Reaktor mit Sand, Blei, Lehm und Dolomit zuschütten. Vorerst ganz ohne Schutzkleidung. Erst in der zweiten Arbeitswoche wurden Schutzmasken verteilt. "Vom 29. April bis 5. Mai arbeiteten wir von früh bis spät", erinnert sich Derkatsch. "Wir arbeiteten, so hart wir konnten, weil wir so schnell wie möglich wieder nach Hause wollten."

Eine Verbindung zur Außenwelt gab es keine. Die Kommunikationswege wurden laut Derkatsch manipuliert, damit keine Informationen über die Katastrophe nach außen dringen konnten. "Ich sandte ein Telegramm an meine Familie, darin stand, dass ich wohlauf war. Doch es kam erst daheim an, als ich längst von meinem Einsatz zurück war."

Sechs Tage durchgehend im verstrahlten Gebiet

Dass er sich mit seinen Kameraden sehr hohen radioaktiven Strahlungen aussetzte, war Derkatsch klar. Über die gesundheitlichen Folgen der Strahlung war hingegen wenig bekannt. "Von den Nachfolgen der Katastrophe wussten wir nichts. Es war ja das erste Mal, dass so eine Katastrophe passiert war."

Eine Woche verbrachte Derkatsch mit seinen Kameraden rund um die Uhr in dem verstrahlten Gebiet um den Reaktor. "Selbst unser Zeltlager war nur vier oder fünf Kilometer vom Reaktor entfernt, also noch in gefährlichem Gebiet. Wir mussten ja immer so schnell wie möglich beim Reaktor sein und durften am Weg dorthin keine Zeit verlieren." Offiziell soll Derkatsch 25 Röntgen pro Stunde ausgesetzt gewesen sein, er vermutet jedoch, dass es viel mehr war.

Strahlungen von 300 bis 500 Röntgen pro Stunde gelten als tödlich. "Unsere Werte wurden aber erst im Nachhinein von irgendeiner Behörde in einem Ausweis vermerkt. Eine Anfrage an die Regierung bezüglich der richtigen Werte blieb bis heute unbeantwortet."

Viele Liquidatoren starben

Insgesamt waren im ersten halben Jahr etwa 700.000 Liquidatoren im Einsatz. In den ersten beiden Schichten direkt nach der Reaktor-Explosion arbeiteten mit Derkatsch rund 700 Liquidatoren an der Säuberung der Anlage. "Heute leben von ihnen nur mehr 91. Davon sind rund zehn sterbenskrank und warten daheim im Bett auf ihren Tod."

Noch schlimmer soll es jene Soldaten getroffen haben, die nach den ersten Liquidatoren ihren Dienst antraten. "18-jährige Soldaten mussten Säuberungsarbeiten direkt auf dem Dach des Reaktors durchführen. Eigentlich sollten das Roboter machen, doch die versagten wegen der hohen Radioaktivität", erinnert sich der 60-Jährige. Also mussten die jungen Soldaten das verstrahlte Geröll wegräumen. "Das hat das Leben dieser jungen Leute vernichtet. Sie waren die Ersten, die nach dem Einsatz an den Folgen der Verstrahlung starben."

Gesundheitliche Probleme

27 Jahre sind seit der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl vergangen, mit den gesundheitlichen Folgen kämpft Derkatsch bis heute. Neben Herzproblemen leidet er an Bluthochdruck, Gelenksschmerzen, Magenproblemen und Atembeschwerden. "Ich glaube, dass ich radioaktiv verseuchten Staub über die Atemwege und übers Essen aufgenommen habe. Daher habe ich Beschwerden beim Atmen und ein Magenleiden."

Bereits kurz nach seinem Einsatz musste er zum ersten Mal behandelt werden. "Wegen eines radioaktiv verseuchten Teilchens, das in meine Speicheldrüse gelangt war, wuchs mir eine Geschwulst am Hals, die aber operativ entfernt werden konnte."

Wenig Unterstützung von der Regierung

Trotz ihrer Leistungen unmittelbar nach der Katastrophe haben die Liquidatoren von der ukrainischen Regierung bislang kaum Unterstützung erhalten. "1986 haben wir gegen das Atommonster gekämpft", sagt Derkatsch, "heute kämpfen wir gegen die Regierung und die Bürokratie."

Von ihren Versprechungen hat die ukrainische Regierung erst wenige umgesetzt. "Es wurden einige Gesetze erlassen, zum Beispiel eine höhere Pension für die Liquidatoren. Doch es fehlt das Geld, um sie auszuzahlen."

"Menschen hören nicht zu"

Aufgrund seiner Erfahrungen in Tschernobyl engagiert sich Derkatsch heute sowohl für die Interessen der Liquidatoren als auch für eine atomenergiefreie Zukunft. "Ich bin ein Gegner der Atomenergie", betont er.

Er versuche zwar den Menschen zu erklären, wie gefährlich diese Art der Energiegewinnung sei, doch nur wenige würden ihm zuhören: "Die Menschen wollen einfach nicht darüber nachdenken. Viele Menschen denken, dass solche Katastrophen überall, nur nicht in ihrem Land passieren können. Dabei haben wir sehr gute Gegenargumente, etwa Fukushima."

Auszeichnungen für Liquidatoren

Vor dem Fall der Sowjetunion wurden die Leistungen der Liquidatoren öffentlich verschwiegen. "Gorbatschow wollte nicht, dass irgendwelche Helden aus der Katastrophe hervorgehen", sagt Derkatsch. Das änderte sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine: Einige Liquidatoren erhielten Auszeichnungen, unter ihnen auch Boris Derkatsch.

Ob das die gesundheitlichen Spätfolgen aufwiegen kann? "Ich weiß nicht, ob das irgendjemand versteht. Aber ich weiß, dass ich meine Arbeit gemacht habe. Ich bin nicht geflohen, sondern habe mitgeholfen, größeren Schaden von ganz Europa abzuhalten. Das ist genug für mich." (Elisabeth Schmidbauer, derStandard.at, 23.4.2013)