Christian Seifert ist seit 22 Jahren bei der Berufsfeuerwehr München und seit 14 Jahren in der Leitstelle für Notrufe tätig.

Foto: Michael Foidl

Die Mitarbeiter der Einsatzleitstelle München nehmen durchschnittlich 2.500 Anrufe pro Tag entgegen. Dabei müssen sie 85 Prozent aller Anrufe binnen zehn Sekunden annehmen und entscheiden, ob es sich tatsächlich um einen Notruf handelt. Christian Seifert ist seit 14 Jahren in der Leitstelle tätig - früher als Disponent direkt am Telefon, heute als Lagedienstführer.

In seinem Buch "Notruf 112" erzählt Seifert von persönlichen Erlebnissen am Notruftelefon. Im Interview mit derStandard.at spricht er über Kinder als zuverlässige Nothelfer, Anrufer mit Nanobomben unter der Haut und wie man einen Suizid am anderen Ende der Leitung verkraftet.

derStandard.at: Als Disponent einer Notrufnummer sitzt man "nur" am Telefon. Wie viel kann man in dem Beruf eigentlich bewirken?

Seifert: Man ist der direkte Ansprechpartner des Anrufers. Je besser man abfragt und sich die Lage vor Ort vorstellen kann, desto besser sind die Einsatzkräfte auf den Notfall vorbereitet. Als Disponent kann man aber auch Leben retten - etwa wenn man erkennt, welches medizinische Problem hinter einem Notruf steht, und dann schnell Anleitungen zu Erste-Hilfe-Maßnahmen gibt. Zum Beispiel kann bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand eine Reanimation per Telefon angeleitet werden.

derStandard.at: Haben Sie selbst schon Leben gerettet?

Seifert: Man bekommt sehr selten eine Rückmeldung, was schlussendlich mit dem Patienten passiert ist. Aber ich denke, dass schon viele Leben gerettet wurden.

derStandard.at: Stichwort Erste Hilfe: Sie erzählen in Ihrem Buch von einem Mann, der an einem Unfallort einfach nicht angehalten hat, und von Menschen, die sich Erste Hilfe nicht zutrauen.

Seifert: Viele haben im Hinterkopf, dass sie bei Erster Hilfe etwas falsch machen könnten. Das ist vollkommener Unsinn. Es ist viel schlimmer, gar nichts zu unternehmen. Am besten ist es, wenn man am Telefon und an der Unfallstelle bleibt. Dadurch kann man zumindest die Einsatzkräfte zum Patienten lotsen. Bei Erster Hilfe kann man sich vollkommen auf den Disponenten der Leitstelle verlassen. Dieser leitet einen Schritt für Schritt von der stabilen Seitenlage bis zur Herz-Lungen-Wiederbelebung.

derStandard.at: Die Leitstelle in München verwendet bewusst kein standardisiertes Abfrageschema, weil es bei vielen Anrufen auf das nötige Bauchgefühl ankommt. Wie oft brauchen Sie Ihre Intuition?

Seifert: Sehr häufig bei sogenannten Psycho-Anrufen - also wenn Menschen eine psychische Krankheit haben oder einfach nur reden wollen. Meistens kennt man die Leute schon, weil sie sich regelmäßig melden. Man weiß dann genau, wie man auf sie eingehen muss. Natürlich nehmen wir sie ernst. Es ist aber oft schwer herauszufinden, ob es sich um einen tatsächlichen Notruf handelt.

derStandard.at: Können Sie ein Beispiel nennen?

Seifert: Ein junger Mann erzählte mir am Telefon, dass unter seiner Haut Nanobomben versteckt sind. Er wollte keinen Arzt, ließ sich aber überreden, einen Feuerwehrmann mit Frequenzmessgerät in seine Wohnung zu lassen. Ich ließ also einen Arzt in eine viel zu große Feuerwehruniform schlüpfen und ihm ein altes Strommessgerät in die Hand drücken. Die vermeintliche Behandlung überzeugte den Mann glücklicherweise.

derStandard.at: Wie entlocken Sie Kinderanrufern die richtigen Antworten?

Seifert: Kinder geben instinktiv die vernünftigsten Antworten und bleiben in Notfällen oft ruhiger als Erwachsene. Es gibt viele Beispiele, dass ein Kind durch einen Notruf ein Leben retten konnte. Mir fällt dabei der vierjährige Benni ein, dessen Mutter plötzlich auftretende Krampfanfälle hatte und der sofort den Notruf wählte. Er wusste nicht einmal seine Adresse, beschrieb mir dann aber die Umgebung der Wohnung durchs Fenster. Dadurch hat er seine Mama gerettet. Deshalb macht es auch Sinn, dass Kinder bereits früh ein Mobiltelefon dabeihaben oder damit umgehen können.

derStandard.at: Welche Möglichkeiten hat man in der Leitstelle, wenn Personen anrufen, die gar nicht oder nur schlecht Deutsch sprechen?

Seifert: Wir haben eine Liste von Personen, die andere Sprachen sprechen und übersetzen können. Oft haben wir auch Kontakt zur Berufsfeuerwehr Bozen, die uns mit italienischen Gästen hilft und dann zum Gespräch zugeschaltet wird. Im Notfall können wir auch auf die Dolmetscherauskunft am Flughafen zugreifen. Einmal hatte ich eine Frau am Telefon, die nur Ungarisch gesprochen hat. Um sie zu verstehen, hat ein Kollege seinen ehemaligen Pensionswirt vom Plattensee angerufen und eine Konferenzschaltung aufgebaut. So konnten wir feststellen, in welcher Notsituation sich die Frau befand, und Hilfe schicken.

derStandard.at: Manchmal kommen die Einsatzkräfte aber auch zu spät. Sie selbst waren bereits Zeuge eines Suizids am Telefon. Wie gehen Sie damit um?

Seifert: Es ist zwar höchst dramatisch, aber man muss damit auch abschließen können, denn es warten neue Notfälle. Nach dem besagten Fall habe ich eine zehnminütige Pause gemacht. In der Leitstelle läutet das Telefon den ganzen Tag, und wenn man so einen Anruf beendet, stehen wieder neue Anrufe an. Das ist auch organisatorisch schwierig: Man muss versuchen, einen Kollegen aus dem Bereitschaftszeit zu holen, damit der Platz besetzt ist. (Bianca Blei, derStandard.at, 30.4.2013)