Am 8. Juli 1944 setzt sich Friedrich Torberg in seinem New Yorker Penthouse vor die Schreibmaschine. Der Brief geht an Bettina von Kahler, geborene Denhof, Ehefrau Victor von Kahlers. Die junge Frau befindet sich gerade auf Sommerfrische, und Torberg will sie mit einem - wie er es nennt - "harmlosen Geplapper" amüsieren.

"'Jede Abreise ist überstürzt.' Wie wahr ist erst das", schreibt Torberg. "Und wie sehr gehört es in die Reihe jener unergründlichen Lebensweisheiten, die da anheben mit der Beruhigung: 'Schwarz ist immer elegant', und über den Zuspruch 'Salat kann man zu allem essen' in die rätselhafte und dennoch blitzartig einen Abgrund erhellende Feststellung der Tante Jolesch münden: 'Ein lediger Mensch kann auch am Kanapee schlafen'. Das Geheimnis besteht in der Generalisierung, denn gemeint war ein ganz bestimmter lediger Mensch, der zu ungünstigem Zeitpunkt (nämlich als das Gästezimmer im Hause Wiese bei Iglau schon von wem andern besetzt war) zu Besuch kam und mit dem man folglich nicht wußte, wohin."

Die Tante Jolesch habe es verstanden, eine Kombination von Allgemeingültigem und Persönlichem herzustellen, und dennoch hätten ihre Aussagen nichts an Überzeugungskraft eingebüßt. "Mit einem giftigen Blick auf ihren Bruder, der mit 75 noch immer ein Modegeck war, und gleichzeitig (denn sie schielte) mit einem zärtlichen Blick auf ihren 12-jährigen Großneffen, sagte sie zum Beispiel dieses: 'Wenn sich a Siebzigjähriger schon an Überzieher machen läßt, soll ihn Pauli gleich mitprobieren!'"

Das ist eine frühe Version der Episoden rund um die Tante Jolesch. Bettina von Kahlers Antwortschreiben ist euphorisch: "Ihr Brief war also wirklich herrlich ..." Sie habe so laut gelacht wie schon lange nicht, die Tante Jolesch sei "ein Prachtexemplar". Bettina von Kahler war vermutlich die erste Testleserin dieser Anekdoten. Ihre Begeisterung wird Torberg darin bestärkt haben, die Episoden weiterzuentwickeln.

Victor von Kahler, ein Liebhaber und Sammler von Anekdoten, war der Cousin des viel bekannteren Erich von Kahler, der den Ruf hatte, ein Universaltalent zu sein. Erich von Kahler war Dichter und Soziologe, Historiker und Kulturkritiker, Philosoph und Literaturwissenschafter.

Während Torberg im Schreiben an Bettina von Kahler den Eindruck erweckt, er habe die Tante Jolesch bei seinem Freund Franz Jolesch, dem Sohn eines Textilfabrikanten in Wiese bei Iglau, persönlich kennengelernt, ändert er in der Korrespondenz mit Victor von Kahler und später auch im Buch die Argumentation: Sein Freund Franz Jolesch habe ihn mit Anekdoten einer seiner Tanten versorgt. Torberg schickt Victor von Kahler einige Pointen und animiert ihn, Anekdoten ähnlicher Art zu übersenden.

Am 14. August 1945 kommt Kahler diesem Wunsch nach: "Die Urgroßmutter Scheweleben Teller kaufte in Kuttenberg ein Gut und legte dort eine Zucker- und eine Spiritusfabrik an. Aber sie selbst fuhr nur gelegentlich über den Tag im Stellwagen hinaus und war keinesfalls dazu zu bewegen, in Kuttenberg zu übernachten. 'Am Land übernachtet man nicht' lautete einer der von ihr überlieferten Aussprüche.'"

Torberg legt diesen Spruch der Tante Jolesch in den Mund und platziert die Pointe in einem neuen Umfeld: "'Am Land kann man nicht übernachten', lautete eine von ihr [von der Tante Jolesch] geprägte Sentenz, die mit ' Land' ungefähr alles meinte, was nicht 'Stadt' war, und wo es infolge zurückgebliebener Wohnkultur keine akzeptablen Nächtigungsmöglichkeiten gab. Der Begriff 'Land' wäre hier sinngemäß durch 'flach' zu ergänzen, bezog sich also nicht auf die vorwiegend gebirgigen Sommerfrischen, obwohl auch für sie die Wendung galt, daß man 'aufs Land' ging - hier jedoch in positivem, durch gute Luft und Gottes freie Natur gekennzeichnetem Unterschied zur Stadt."

Laut Torberg stammen die Pointen "Ein Junggeselle kann am Kanapee schlafen" und "Der Pauli soll den Überzieher gleich mit probieren" aus Wiese bei Iglau, wo er oft Franz Jolesch besuchte, ihn bei der Jagd begleitete und in einer noblen Sommervilla wohnte - das Haus gehört heute den Nachfahren einer Haushälterin der Familie Jolesch. Victor von Kahler bezweifelt allerdings die Einmaligkeit der Sprüche und lässt sich mit Torberg auf einen scherzhaften Streit um die Urheberschaft ein. Er beharrt darauf, dass solche Sätze auch von der Schwiegermutter eines seiner Freunde überliefert seien. In der Tat waren sie wohl in großbürgerlichen jüdischen Familien so etwas wie Allgemeingut.

Torberg und Kahler verstricken sich auch in eine hitzige Debatte darüber, ob bei der Krapfenzubereitung die Marmelade erst am Schluss mit einer Nadel in den fertigen Teig hineingespritzt werden darf. Am 31. Juli 1949 schreibt Torberg an Kahler, dass es "noch ein Glück ist, unter solchen Umständen überhaupt Krapfen essen zu können. Aber wie sagte die alte Tante Jolesch? Sie sagte: 'Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.' Schuft meines Namens, wenn ich dem noch etwas hinzuzufügen habe."

Aber dann fügt er dieser Grundsatzerklärung doch noch etwas hinzu, ein Bekenntnis: "Es war gar nicht die Tante Jolesch, die das gesagt hat, sondern meine eigene Großmutter Berg, dieselbe, die, wenn eines ihrer neun Kinder sie allzu sehr plagte und ärgerte, sich mit der vorwurfsvollen Frage an ihren Selchergatten wandte, warum er statt dessen nicht lieber eine Salami gemacht hatte. Aber für mich ist die Tante Jolesch eine symbolische Gestalt geworden und ich habe mir längst angewöhnt, alle derartigen Sager ihr zuzuschreiben."

Torberg verschiebt auch die Akteure der Anekdoten wie Figuren auf einem Schachbrett. In der Überzieher-Anekdote tritt nach einiger Zeit Franz Jolesch an die Stelle des Großneffen Pauli. Während Pauli eine Erfindung Torbergs sein dürfte, ist Franz Jolesch nachweislich eine reale Person. Er war eine Zeit lang mit einer Frau verheiratet, die mit ihrem Mädchennamen Louise Gosztonyi hieß. Sie war später die Ehefrau des Komponisten Hanns Eisler und dann des Schriftstellers und Politikers Ernst Fischer. Während der Modegeck, der sich einen Überzieher schneidern lässt, ursprünglich der Bruder der Tante war, spielt im Buch diese Rolle ihr Ehemann. Meist lässt Torberg die Figuren deshalb rochieren, um die Erzählstruktur zu verbessern.

Wer einen Blick hinter dieses literarische Szenario wirft, stößt auf interessante und zum Teil dramatische Menschenschicksale. Franz Jolesch wurde einen Tag nach seiner Hochzeit von seinem Vater in einem in Wien neu aufgesetzten Testament auf den Pflichtteil herabgesetzt - der Fabriksbesitzer hatte dagegen opponiert, dass sein Sohn die mondäne Kommunistin Louise heiratet.

Ein Onkel von Franz Jolesch verließ das Familienunternehmen, heuerte bei dem Großindustrielle Isidor Mautner an und wurde zum wichtigsten Generaldirektor in dessen Textilimperium. Ein Cousin von Franz Jolesch war Mitarbeiter bei der berühmten sozialwissenschaftlichen Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. Es wäre reizvoll, sich die Handlung eines Romans mit den Mitgliedern der Familie Jolesch und der Familie Mautner auszudenken, es wären die österreichischen Buddenbrooks.

Ob es in der Familie Jolesch eine Frau gegeben hat, die Vorbild für Torbergs literarischer Tante war, lässt sich heute trotz intensiver genealogischer Recherchen nicht mehr ausmachen. Georg Gaugusch, im Brotberuf Inhaber des Tuchgeschäfts Wilhelm Jungmann & Neffe am Wiener Albertinaplatz, konnte einen kompletten Stammbaum der Familie Jolesch erstellen: Samuel und Sara Jolesch, die Großeltern Franzls, hatten drei Söhne und fünf Töchter, doch keine Frau in dieser weit verzweigten Familie ist - wie Torberg schreibt - im Jahr 1932 von der Familie umsorgt zu Hause im Bett gestorben. Viele von ihnen sind in der Schoah ermordet worden, auch diese traurige Wahrheit ist bei der Recherche ans Tageslicht gekommen.

Torberg hat die Geschichten der Tante Jolesch, ehe er sie Mitte der Siebzigerjahre niederschrieb, immer wieder im Freundeskreis erzählt. " Oft mit leicht verändertem Wortlaut", erinnert sich beispielsweise Heinz Marecek, "man merkte, wie er an den Reaktionen seiner Zuhörer beobachtete, welche Version eine bessere Wirkung erzielte."

Vielleicht war auch dies ein Grund für den Erfolg des Buches. Wobei eines bemerkenswert ist: Obwohl die Geschichten rund um die Tante Jolesch nur ein Dutzend Seiten in einem doch recht dicken Buch ausmachen, bleiben vor allem sie in der Erinnerung haften und sind Teil des österreichischen Kulturerbes geworden. (Robert Sedlaczek, Album, DER STANDARD, 27./28.4.2013)