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Irgendwo im Grenzbereich zwischen Psychotherapie und Pseudotherapie liegt die Familienaufstellung, bei der das Beziehungsgeflecht im System Familie nachgestellt wird. Wer steht wem besonders nahe, wer kommt weniger gut miteinander aus?

Foto: apa/dpa/frank leonhardt

Sie trat, schlug, biss, kratzte, zwickte und spuckte - so lange, bis sie körperlich und psychisch nicht mehr in der Lage war, sich zu wehren. Sara* war etwa fünf, sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal von ihrer Mutter in eine feste Umarmung gezwungen wurde. Die Ursache dafür waren heftige Heulkrämpfe, die sie als Kind sehr oft hatte. Sara war schwer zu beruhigen - aber berühren lassen wollte sie sich deswegen nicht, im Gegenteil: "Ich wollte möglichst viel Abstand zu allen haben", erzählt sie heute. Ihre Mutter war da anderer Meinung.

"Festhalte-Therapie" nennt sich die Technik, die in den 80er Jahren vor allem von der  Psychologin Jirina Prekop propagiert wurde. Ursprünglich zur Behandlung von autistischen Kindern verwendet, wurde das "Holding" von ihr als Psychotherapie bei "allen Bindungsstörungen" in der Familie angewendet - sie garantiere damit eine "Erneuerung der Liebe". Für Kritiker ist diese Methode allerdings nichts anderes als Gewalt gegen Kinder.

"Ich habe es immer gehasst", sagt Sara, wenn sie an die Zeiten zurückdenkt, in denen sie sich gegen die "Schraubstock-Umarmung" gewehrt hat. "Es gab keinen einzigen Moment, an dem ich das gut fand oder dankbar war. Ich war einfach nur zu müde, um mich noch zu wehren, deshalb war ich schließlich entspannt." Das Schlimmste an dieser Behandlung sei für sie der Verlust der Selbstkontrolle gewesen - dass nicht sie darüber bestimmen durfte, ob und wie sie angefasst werden wollte.

Rituelle Inszenierung

Die Festhalte-Therapie ist nur eine von vielen Methoden, die in den Bereich der esoterischen Psychotechniken fällt. Nicht zuletzt deshalb, weil dadurch sinnvolle Grenzen des Kindes überrannt werden und es zu einem Zusammenbruch der Persönlichkeit kommen kann. Generell zeichnen sich Pseudotherapien dadurch aus, dass sie intensive Erlebnisse schaffen, aber anders als eine Psychotherapie nicht alte Verletzungen oder Verhaltensmunster zu überwinden vermögen. Die Grenzen zwischen Psychotherapie und Pseudotherapie sind dabei fließend: Nicht selten beruhen Pseudotherapien auf psychotherapeutischen Methoden.

Darunter fällt beispielsweise die "Familienaufstellung" - eine Technik, die zur Diagnose in der Familientherapie häufig verwendet wird. Dabei schlüpfen Personen in die Rolle von Familienangehörigen. Der Betroffene stellt sie so im Raum auf, wie er möchte. So wird das Beziehungsgeflecht in der Familie nachgestellt: Wer steht wem besonders nahe, wer kommt weniger gut miteinander aus?

Der ehemalige katholische Missionar Bert Hellinger hat diese Idee aufgegriffen und verspricht Teilnehmern seines Seminars, die Probleme in der Familie innerhalb eines Wochenendes zu lösen. "Er sieht die Aufstellung als eine rituelle Inszenierung, um die Wahrheit herauszufinden. Er sagt, was die Lösung ist und wie Familienmitglieder zueinander stehen sollen", erklärt die Psychologin Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen.

Hellinger vertritt mit seiner Version der Familienstellung ein konservatives Weltbild: Frauen sind den Männern untergeordnet, die Eltern gehören immer zueinander und sollten geachtet werden, niemand darf aus der Familie ausgeschlossen werden. "Das Bild der Familie, das Hellinger in Verbindung mit einem übermächtigen großen Ganzen sieht, gibt er selbst vor", erklärt Schiesser. Damit sei er vor ein paar Jahren "ein Star" in der Therapieszene gewesen. 

Tödliches Ende

Pseudotherapien wie diese können bei den Teilnehmern langfristige psychische Schäden verursachen - oder gar tödlich enden: Bei einem Seminar mit 600 Teilnehmern schickte Hellinger eine Betroffene hinaus, weil sie ihm zufolge der Familie nur schadete. In der darauffolgenden Nacht nahm sich die Teilnehmerin aus Verzweiflung das Leben. "Das ist ein belegter Fall, Folgeschäden durch Pseudotherapien sind prinzipiell aber schwer nachweisbar", sagt Schiesser.

Das Gefährliche an Pseudotherapien ist laut Schiesser, dass Methoden angewendet werden, die im Kern wirksam seien. In den 90er Jahren besonders beliebt war dabei der "Hoffman-Quadrinity-Prozess". Er garantiert Heilung oder zumindest Linderung bei Drogenabhängigkeit, Missbrauchserfahrungen, Essstörungen, Depressionen, Diabetes, Krebs, Paranoia, Magengeschwüren und Frigidität.

In nur acht Tagen sollen belastende oder traumatische Kindheitserfahrungen aufgearbeitet werden. Den Seminarabsolventen wird dabei ein "anderes" Leben versprochen. In "Wutsitzungen" werden verdrängte kindliche Gefühle nacherlebt: Teilnehmer schlagen unter anderem mit Stöcken auf Kissen ein und schreiben stundenlang Hass-Briefe an ihre Eltern. Danach erfolgt die Versöhnung mit den Eltern - die totale Vergebung ist in dieser Pseudotherapie die einzige Möglichkeit. Eine Psychotherapie würde hier mehr differenzieren und etwa die Möglichkeit geben, den Eltern zwar nicht zu vergeben, aber sich trotzdem von ihnen zu emanzipieren.

Der Quadrinity-Prozess hingegen folgt einem strikten Zeitplan und strengen Ritualen. Am fünften Tag etwa wird die Loslösung von den Eltern nachgestellt - dabei gehen die Teilnehmer auf einen Friedhof und stellen sich die Beerdigung ihrer Eltern vor. Grenzen werden dabei nicht akzeptiert, im Gegenteil: Deren Überschreitung ist notwendig für den Erfolg der Methode.

Viel Dramatik

Festhalte-Therapie, Familienaufstellung, Quadrinity-Prozess, Rebirthing oder Engeltherapie: Die Liste an Pseudotherapien ist lang. Sie werden oft im Rahmen von intensiven Wochenendseminaren von Nichttherapeuten angeboten. Laien, die Weiterbildungskurse absolviert haben, aber über keine psychologische Grundausbildung verfügen, bieten Persönlichkeitsseminare an, die in den Bereich der Lebenshilfe fallen.

Charakteristisch dafür ist ein gewisser Showcharakter: "Es wird geschrien, geweint, es muss etwas sichtbar gemacht werden", sagt Schiesser. Anders als Psychotherapien, die sich langsam zu den Problemen der Klienten vortasten, wird bei Lebenshilfe-Seminaren mit viel Dramatik ein Thema möglichst schnell verarbeitet. Dabei werden psychologische Prozesse in Gang gesetzt, die bei einer falschen Betreuung gefährlich werden können.

"Innerhalb kürzester Zeit wird emotional viel aus den Teilnehmern herausgeholt", sagt die Psychologin. Gerade für empfindsame Personen sei ein derartiges Wochenendseminar gefährlich. Meist bestehen diese aus vielen Gruppenübungen, Meditation, kaum bis wenig Essen und wenig Schlaf. Teilnehmer können nach diesen Extremerfahrungen Psychosen entwickeln und in eine Manie fallen. Die Symptome sind dabei schwer unterscheidbar von dem, was in den Seminaren erwünscht wird, nämlich beispielsweise Stimmen zu hören oder mit Hilfe von Atemübungen Halluzinationen zu bekommen.

Angehörige von Betroffenen wenden sich in solchen Fällen häufig an die Bundesstelle für Sektenfragen. "Die Seminarteilnehmer bemerken manchmal nicht rechtzeitig, wenn sie in eine psychische Ausnahmesituation geraten, und werden von den Seminarveranstaltern eher darin unterstützt, keine therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen - bis zu dem Punkt, wo es nicht mehr geht", erzählt Schiesser. Dann sei der Lebenshilfe-Trainer plötzlich nicht mehr erreichbar.

Zeit- und Kostenfrage

Deswegen alle Persönlichkeitsseminare pauschal zu verurteilen sei aber falsch, es gebe durchaus sinnvolle Seminare, sagt Schiesser. Vorsicht ist dann geboten, wenn es das erklärte Ziel ist, das Leben an einem Wochenende komplett zu ändern, völlig neue Entscheidungen in kürzester Zeit zu treffen. Wenn etwa den Teilnehmern nahegelegt wird, soziale Kontakte sofort abzubrechen.

Angebote, die zu hinterfragen sind, erkennt der Laie außerdem daran, dass sie hohe Kosten verursachen. Wichtig sei außerdem eine Nachsorge. "Gibt es keine Folgetermine, dann ist das Angebot fragwürdig", sagt die Psychologin. Hinweise darauf, ob es sich um ein seriöses Angebot handelt oder nicht, kann auch die Beantwortung folgender Fragen geben: Gibt es einfache Lösungen für komplexe Probleme? Wird für alle Probleme die gleiche Lösung vorgeschlagen? Was wird genau versprochen?

Sara geht es heute gut. Mit 14 Jahren suchte sie auf eigene Faust eine Psychotherapeutin auf, bei der sie eineinhalb Jahre blieb. Als sie ihr zum ersten Mal von ihren Erlebnissen mit der Festhalte-Therapie erzählte, wurde ihr dabei schwindlig. Die Psychotherapeutin habe ihr aber den nötigen Raum gegeben, die Erfahrung zu verarbeiten. Lange Zeit haderte sie mit einer Art "hilfloser Wut", wenn ihre Grenzen in irgendeiner Art nicht respektiert wurden. "Was mir vielleicht noch ein bisschen geblieben ist, ist ein gewisses Misstrauen den Menschen gegenüber, die mir eigentlich sehr nahe sind", sagt Sara. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 26.4.2013)