Zwei Schadensersatzprozesse gegen das Kloster Mehrerau in Bregenz haben Strukturen zutage gefördert, die geradezu ideal sind für einen Menschen, der Kindern prügeln, missbrauchen und vergewaltigen will.
Ein geschlossenes System bindet die Opfer von allen Seiten und weist ihnen selbst Schuld zu. Die beiden Männer wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren vom selben Mönch, Pater J. B., schwer vergewaltigt. Es handelt sich um den ersten Zivilprozess dieser Art, der in Österreich gegen einen Orden geführt wird.
Was der Prozess zutage brachte
1967 misshandelte B. ein Kind sexuell und wurde dafür verurteilt. Das war dem Kloster bekannt. Im Jahr darauf wurde er dennoch Lehrer an der Klosterschule. Wie aus den Zeugenaussagen zu erfahren war, prügelte B. in den Folgejahren Schüler „vor dem Speisesaal zu Boden". Einer der Kläger wurde über drei Jahre vergewaltigt. Mindestens eines seiner Opfer aus dieser Zeit beging später Selbstmord. Die Klosterhierarchie schien mit seiner Arbeit zufrieden, 1981 wurde er zum Internatsleiter befördert. Schon kurz darauf vergewaltigte er den zweiten Kläger, der sofort aus dem Kloster flüchtete. Brunos Eltern stellten daraufhin den damaligen Abt zur Rede und verzichteten auf eine Strafanzeige, weil sie Zusicherungen bekamen: B. wird nie wieder mit Kindern arbeiten, er wird in Therapie gehen, suspendiert und darf keine Messen mehr lesen. Vier Monate später war B. Pfarrer und Religionslehrer im benachbarten Tirol.
"Kinderlieferservice"
Und nun das schier Unfassbare: Nachdem nun 1982 alles aufgeflogen war bekam B. weiterhin regelmäßig Besuch aus Bregenz. Einmal im Jahr kam die Mehrerauer Pfadfindergruppe auf Besuch in seinem neuen Wirkungsbereich. Pfadfinderleiter war damals Pater A., ein bekennender Nationalsozialist, der die Tugenden der Wehrmacht im Firmunterricht nicht genug würdigen konnte. Dieser Mann liefert jeden Sommer eine Gruppe Kinder frei Haus an B.
Solidarität mit den Opfern
Nachdem das alles in den Prozessen bekannt geworden war, drehte sich die Stimmung in Vorarlberg merklich. Zu Beginn der Prozesse waren sich viele im Land, mit denen ich sprach, noch sicher, die beiden wollten "doch eh nur abzocken". Die Brutalität der Schilderungen im Gericht, das schiere Ausmaß des Verbrechens machten es für das Kloster und seine UnterstützerInnen unmöglich, die Sache weiter totzuschweigen. Die Solidarität der Menschen mit den Opfern nahm zu. Wer die Kläger pauschal beschimpfte, hatte mit Gegenrede zu rechnen. Ein System war sichtbar geworden, das Gewaltverbrecher in Machtpositionen spült, ihre Taten fördert, vertuscht und ihnen ihre Opfer zuführt.
Infrastrukturelles: geschlossenes System
Ein Kloster ist meiner Meinung nach ein ideales Beispiel für ein Umfeld, das die Taten eines Vergewaltigers fördert. Schon baulich ist es ein geschlossenes System mit Mauern, Zäunen und einem Respektabstand zum Laien. Der Informationsfluss ist kontrollierbar und die einzige Kontrollinstanz ist der Abt, der absolutistische Herrscher der Infrastruktur. B., dessen einschlägige Verurteilung und dessen Sadismus bekannt waren, bekam von diesem Herrscher: ein paar Klassen voller Kinder; viel Platz und verborgene Räume; den institutionellen Auftrag, ein Auge auf die Kleinen zu haben; die Verletzlichen zu identifizieren; die Macht, sie mit Sanktionen zu belegen. Vor allem aber bekam der Täter vom Abt klare Hinweise darauf, Kindesmissbrauch sei im Kloster kein Problem. Schließlich tat er das häufig und wurde dennoch zum Internatsleiter befördert, wo er noch viel bessere Bedingungen vorfand als zuvor als Lehrer.
Doch ein von innen geschlossenes System genügt noch nicht, um den Täter vollkommen zu schützen. Das misshandelte Kind ist doppelt gebunden. Die Menschen außerhalb sehen im Orden nicht nur einen wichtigen Wirtschaftsfaktor der Stadt, sondern auch einen Ort der Einkehr, einen Ort der Moral, einen spirituellen Ort. Das Kloster genoss einen Status der Heiligkeit, der Abt galt als eine moralische Instanz. Das Kloster durfte nicht "beschmutzt" werden.
Den Opfern wird nicht geglaubt
Ein sexuell misshandeltes Kind, das seiner streng klostergläubigen Familie erzählen will, dass es misshandelt wurde, hat einen schweren Stand. Es ist nicht die Ausnahme, es ist die Regel, dass den Opfern nicht geglaubt wird. Auch das ist eine Kindesmisshandlung. Der Versuch, ja, schon der Wunsch zu erzählen geht immer mit der Gefahr neuer Traumatisierungen einher. Eltern, die ihrem Kind glauben, wagen oft kaum, nach außen zu gehen, weil sie sich und ihr Kind „der Schande aussetzen". Was sagen denn da die Nachbarn?
Bei Opfern von Sexualdelikten ist regelmäßig zu erkennen, wie sie bei sich selbst Schuld suchen. Sie selbst können und wollen sich ihre damalige Machtlosigkeit gar nicht mehr vorstellen. "Irgendwie hab ich den doch sicher provoziert." Damit arbeiten auch die Täter. Die Schuld soll auf die Opfer übergehen.
System Familie
Das Kloster ist ein Beispiel für Vergewaltigungsinfrastruktur, aber es ist nicht die einzige. Es gibt noch weitere „heilige" Institutionen, andere geschlossene Systeme. Die meisten Täter sind keine Mönche, diese haben aber ein weltweit agierendes, seit 1.000 Jahren erprobtes Vertuschungsnetzwerk und Täterschutzsystem auf ihrer Seite. Die meisten Taten geschehen im geschlossenen System Familie. Es sind Onkel oder Tanten, befreundete Babysitter, Mamas neuer Freund, Omas und Opas. Einrichtungen wie Klöster geben uns die Möglichkeit die Täter als „Psychopathen" und „Kranke" zu denken und zu leichte Erklärungsmuster zu finden, weil es dann eben der "Zölibatäre" ist. Damit bringt man die Illusion von Distanz zwischen sich und den Kindesmissbrauch. Mit Begriffen wie "Cousin" oder "Taufpate" rückt das hingegen ganz nah heran. Am Beispiel der Klöster können wir aber lernen, Strukturen zu identifizieren, die Täter unterstützen. Lernen von den Besten.
Kläger statt Opfer
Für beide Kläger im Fall Mehrerau war der Prozess ein extrem schwieriger Weg. Sie mussten sich all das wieder in Erinnerung rufen und erzählen, was sie so viele Jahre in sich vergraben hatten. Doch jetzt haben sie ihre Position verändert, Kläger statt Opfer. Und sie haben noch mehr erreicht. Es ist heute sicherer für ein missbrauchtes Kind, sich an jemanden zu wenden, denn im Verlauf der Prozesse hat sich die Stimmung geändert, das Blatt hat sich langsam aber kontinuierlich gewendet. (Leserkommentar, Markus Wachter, derStandard.at, 24.4.2013)