Krems - Mark Stewart kommt aus einer Zeit, da man noch vom "System" sprach oder "Welcome to the machine" sang - und jeder, der das hörte, nickte wissend und mit dem Herzen ganz voll stummen Protests. Es gab den Ami oder den Russen. Die stritten sich um die Welt. China war für seinen Kohl bekannt und ansonsten irgendwie weit vom Schuss; und von Großbritannien aus spielte Margret Thatcher Schifferlversenken und "Gute Zeiten, schlechte Zeiten".
Stewart sang damals gegen "sie" und ihr "System" an. Mit seiner aus dem britischen Bristol kommenden, ultimativ benannten Band The Pop Group zerlegte er Funk und Reggae mit den Mitteln des Dub und brachte den verzerrten Agitpop-Gesang mit Megafon in amoklaufenden Post-Punk-Attacken wie We are all prostitudes oder She's beyond good and evil zu einer nicht mehr dagewesenen Meisterschaft. Seither sind mehr als 30 Jahre vergangen. Stewart hat eine mitunter künstlerisch atemberaubende Solokarriere im politischen Soundsystem-Fach auf jamaikanischer Basis hinter sich und legt dabei den Schwerpunkt immer auch auf das Lebenskünstlertum.
In der Kremser Minoritenkirche tapste der bärbeißige Anarchist zu den schweren technoiden Dub-Beats seines Weggefährten Adrian Sherwood unten im Kirchenschiff am Mischpult herum. Oben auf der Bühne versuchte der britische Elektronikextremist Russell Haswell seinem gewohnt wütenden Geräuschhäcksler erstmalig Strukturen im spießigen Rhythmusgewerbe zu verpassen.
Struktur ist alles
Kollege Mika Vainio aus Finnland auf der anderen Seite ist das von seinem alten stilbildenden Minimaltechno-Duo Panasonic und dem legendären Sähkö-Label gewohnt. Wenn die Struktur alles ist, was man hat, dann ist die Struktur alles. Gerade auch im Bereich der gleichschaltenden kryptofaschistischen Vierviertelbeats, gegen die Stewart eine Stunde lang zu lustigem Endzeit-Dub deklamierte. Das System. Wir gegen sie. Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.
Einen Fußmarsch weiter am Messegelände beschloss Martin Rev zwei Stunden später, den Herrgott einen guten Mann sein zu lassen und dem Publikum zu zeigen, dass es schon vor dem Laptop nicht notwendig war, immer alles selbst spielen zu müssen. Es klingt etwa hervorragend, wenn man die Rhythmusmaschine (Man entschuldige die altertümlichen Ausdrücke) und den Sequencer weitertuckern lässt und lieber einen auf Partykönig Sven Väth macht: Wo sind die Hände?! Der Mann prägte mit Sänger Alan Vega in den 1970ern den Synthie-Pop von New York aus entscheidend mit. Er ließ einen Elvis aus der Hölle mit zwei Stricknadeln in die Steckdose fahren und shuffelte dazu elektronischen Rockabilly. Auch solo klang das hier noch genauso schön zerschossen wie vor fast 40 Jahren. Einen Sänger kann Martin Rev allerdings nicht einfach so ersetzen, in dem er eine lustig leuchtende Brille aufsetzt.
Zuvor stellte die frühere Rabiatperle Jim Thirlwell unter Beweis, dass er die 1980er-Jahre und seine frühen Großtaten mit verschiedenen (Solo-)Projekten im Bannkreis des Wortes "Foetus" und Amokrock auf elektronischer Basis erfolgreich hinter sich gebracht hat. Nun lebt er davon, auf den Kinderkanälen dieser Welt laufende Zeichentrickserien musikalisch hochzujazzen.
Mit seinem Projekt Manorexia und einem kleinen E-Musik-Orchester auf der Bühne jagten Tom und Jerry durch den Saal. Lustige Atombomben explodierten, Schüsse peitschen durch die Luft. Helikopter kreisten. Verdammt, "sie" sind immer noch hinter uns her. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 4./5.5.2013)