
"Es ist ein Problem, wenn Jungs bislang ein Tortenstück für den ganzen Kuchen gehalten haben."
Standard: Sie arbeiten zum Thema "Sex, Liebe, Partnerschaft" an Schulen, meist mit Buben im Alter zwischen 13 und 16. Welche Themen sind da virulent?
Stein: Ich bin immer wieder überrascht, wie geschlechtsspezifisch der Zugang ist. Meist spricht man mit den Burschen erst einmal zwei Stunden lang über Körper, Selbstbefriedigung, Pornografie, Homosexualität, Pubertät et cetera. Danach kann man gut auch über Liebe, Partnerschaft und Gefühle reden. Direkt mit diesen Themen einzusteigen funktioniert nicht. Bei den Mädels ist das genau umgekehrt. Die Kolleginnen, die mit den Mädchen arbeiten, berichten mir, dass es in ihren Workshops ganz viel um Gefühle geht, das "erste Mal", und wenn sie ausführlich das Thema Beziehung beackert haben, dann reden Mädchen auch über sexuelle Inhalte. Es ist mir fast unangenehm, das so klischeehaft darzustellen, aber es ist die Praxis.
Standard: Wie beginnen Ihre Workshops?
Stein: Die Burschen werfen auf die Frage, was ihnen zu Sexualität und Partnerschaft einfällt, oft pornografische Begriffe in den Raum und schauen, wie ich reagiere. Bei der letzten Moderation, das waren 14-Jährige, kam als erstes Wort "Fisten", dann "Bondage" und "Kamasutra" gefolgt von "Gang Bang". Als ich fragte, ob es da noch etwas gibt, erklang kleinlaut hinten aus einer Ecke: Liebe? Das ist ein typisches Verhalten. Wenn das Eis gebrochen ist, reden sie über Bedürfnisse wie Zärtlichkeit und Vertrauen. Man muss keine Angst haben, dass die Jugend komplett auf dem falschen Dampfer fährt.
Standard: Welche Funktion hat das vulgäre Sprechen?
Stein: Es dient dem Angeben in der Peergroup. Es baut Distanz auf, man muss dann nicht in die Tiefe gehen. Die Burschen reden so, wie sie es gewohnt sind, und meist haben sie nicht gelernt, über Gefühle zu sprechen. Wenn ich nachfrage, ergibt sich ein eher trauriges Bild. Die wenigsten sprechen mit ihren Vätern über Sexualität – oft verweigern sie das auch selbst, weil sie es uncool finden. Trotzdem sind die Burschen ja schlau und schnell, und sie können im Verlauf eines Workshops auch die Sprache wechseln, wenn sie merken: Es geht auch nicht vulgär.
Standard: Welche Rolle spielt Pornografie in der Vorstellungswelt der Jungs?
Stein: Mir kommt es manchmal so vor, als würde jetzt die " Internetpornografie" zum großen Sexteufel, ähnlich wie die Masturbation in früheren Zeiten. Der Verfall der Sitten der Jugend ist ja ein ewiges Motiv. Verteufeln hilft aber nicht, die Internetpornografie ist eine gesellschaftliche Realität, und sie wird immer mehr Generationen immer stärker prägen. Daher ist es immens wichtig, sie klar zu thematisieren. Der sehr frühe Zugang zu diesen Bildern unterscheidet diese Generation von den vorherigen sehr stark. Nicht alle schauen Pornografie aktiv, aber fast alle hatten in irgendeiner Form Kontakt, erst recht, seit es Smartphones gibt. Die ganz Coolen haben immer auch Hardcore-Videos heruntergeladen und zeigen das dann natürlich herum.
Standard: Wie benutzen die Jungs Pornografie?
Stein: Nach meiner Erfahrung gibt es zwei Verwendungsweisen, die man gut auseinanderhalten muss. Da ist einerseits das gemeinsame Anschauen in der Peergroup. Es geht dabei um Rangordnungen und Übertrumpfen, man will auch ein bisschen Extreme austesten, nach dem Motto: Ich hab ein noch krasseres Video. Etwas ganz anderes ist es, wenn sie Pornografie allein für sich zur Selbstbefriedigung nutzen. Es ist meine Erfahrung, und das sagen auch Studien, dass für den privaten Gebrauch generell eher die klassischen und nicht die ganz harten Inhalte gewählt werden. Außerdem schauen die Burschen nicht nur Pornos, sondern diskutieren auch in Internetforen darüber, das kann korrigierend wirken und wird oft viel zu wenig berücksichtigt. Es bleibt aber natürlich ein Problem, dass sie vornehmlich Pornografiebilder im Kopf haben.
Standard: Das heißt, die pornografischen Körpernormen und Rollenvorstellungen werden fraglos übernommen ...
Stein: Früher habe ich in den Moderationen immer ein wissenschaftliches Foto einer Vagina gezeigt, mit normaler Schambehaarung. Vor fünf Jahren geschah es das erste Mal, dass die 13- bis 14-Jährigen sich empörten: " Wääh, grauslich, die ist ja nicht rasiert." Seitdem zeige ich das Bild nicht mehr, ich zeichne nur noch. Die Pornografie verändert die Vorstellungen vom angeblich normalen Körper. Demnach hat die Frau haarlos und rasiert zu sein, und wenn sie es nicht ist, dann fällt das unter "Spezialinteresse". Es entsteht ein enormer Leistungsdruck. Den Burschen ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, wenn ich erzähle, dass die Penisse, die sie in den Pornos sehen, steifgespritzt sind.
Standard: Die Mädchen schauen keine Pornos ...
Stein: Ja, das ist, laut einer Hamburger Studie, einer der größten Gender-Unterschiede derzeit. Fast alle Jungs sehen Pornos, die Mädchen haben wenig Zugang dazu. Das heißt nicht, dass sie nicht mal reinschauen, aber sie betreiben es nicht aktiv. Warum das so ist, bleibt rätselhaft. Die Mädchen sind relativ reif und tolerant. Sie sagen: Für die Burschen ist es wichtig, aber für meine Sexualität brauch ich's nicht. Sehr wenige Mädchen integrieren Pornografie in ihr Bedürfnisskript.
Standard: Liegt das nicht einfach daran, dass die meiste Pornografie für Männer gemacht ist?
Stein: Sicher hängt ihr Desinteresse, ihre Abscheu damit zusammen. Vielleicht bestehen auch Unterschiede in den Bedürfnissen und Fantasien. Die Mädchen konsumieren ausgiebig Beziehungssoaps, in denen nicht eindeutig pornografische, aber sexualisierte Inhalte vorkommen. Diese Serien werden nicht gerade von genderkritischen Leuten gemacht.
Standard: Können die Jugendlichen zwischen Realität und Fantasie unterscheiden?
Stein: Das traue ich mich nicht zu sagen. Wer kann das so genau auseinanderhalten? Wichtig ist, dass sie Medienkompetenz entwickeln, eine richtige Einschätzung der Bilder, die sie sehen. In den Workshops verweigere ich Pornobilder und zeichne relativ viel. So male ich zum Beispiel anfangs ein einfaches Oval, in dem das Wort Sex steht. Im Verlauf der Moderation wird aus dem Wort Sex eine Torte, und die Pornografie steht in einer Ecke des X. Sie ist nur ein Stück vom Ganzen. Wenn die Burschen erkennen, dass Sexualität ein unglaublich reichhaltiges Gebiet ist und dass sie bislang ein Tortenstück für den ganzen Kuchen gehalten haben, dann beginnen sie darüber nachzudenken, was ihnen in der Pornografie alles nicht gezeigt wird.
Standard: Was könnten die Schulen tun?
Stein: Man muss nicht besonders intelligent sein, um zu bemerken, dass Sexualität in fast jedem Fach eine Rolle spielt. Die ganze Kunstgeschichte ist voll davon, die Literatur. Aber es wird nicht beim Namen genannt. Alles, was an der Sexualität über die rein biologischen Tatsachen hinausgeht, scheint den Schulen Angst zu machen. Es fehlt den Lehrern an Mut, an Erfahrung und an einer geeigneten Sprache. Sie zensieren sich selbst, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollen und weil sie sich nicht in ein wohlwollendes System eingebettet fühlen.
Standard: Das heißt, wir reden eigentlich immer noch nicht wirklich über Sexualität ...
Stein: Von der sogenannten Sexuellen Revolution merke ich recht wenig, man könnte meinen, sie hätte gar nicht stattgefunden. Und man spürt die Sehnsucht der Jugendlichen, sich über das Thema Sex auszutauschen. Wenn es gut läuft, kann man als externer Berater auch ein Vertrauensverhältnis aufbauen, das es den Jugendlichen erlaubt, Fragen zu stellen, die sie einer Lehrperson nicht stellen würden. Ich hätte meinen Lehrern, die mich prüfen, auch nicht alles erzählt. Ich bin froh, wenn die Burschen am Ende der Sitzung daraufkommen, dass es ein Zauberwort für sehr viele Probleme gibt, nämlich: "miteinander reden". Das hört sich nicht gut an für Burschen, aber oft sind die uncoolsten und einfachsten Dinge die schwierigsten. (Andrea Roedig, Album, DER STANDARD, 4./5.5.2013)